Soziale Systeme – Gegenstand der Steuerung

Soziale Systeme – Gegenstand der Steuerung

Was steuern wir?

Ich habe bis jetzt keine klare Festlegung getroffen, was ich tatsächlich steuern will. Das liegt daran, dass ich diese Frage grundsätzlich offenhalten will. Steuerungen sollen auf vielen verschiedenen Ebenen und für verschiedene Aufgaben funktionieren, auch wenn sie dabei sehr verschiedene Anforderungen erfüllen müssen. Diese Offenheit wird es uns auch erlauben, Steuerungen z.B. hierarchisch zu konzipieren. Dabei konzentriert sich die Steuerung in einer funktional übergeordneten Einheit auf andere Handlungen als die Steuerung in einer Einheit, die Leistungen zuliefert.

In einem konkreten Fall, wenn es darum geht, Steuerungssysteme zu implementieren, kann ich natürlich nicht mehr im Allgemeinen bleiben. Ich werde deshalb die abstrakten Begriffe, die ich brauche, um Steuerungen allgemein zu beschreiben, mit konkreten Beispielen erläutern.

Wir kümmern uns in diesem Beitrag ausschließlich darum, was gesteuert werden soll. Wie die Steuerung funktioniert, beschreibe ich in weiteren Artikeln. Auf dieser abstrakten Ebene geht es bei der Steuerung von wirtschaftenden Einheiten um soziale Systeme. Der Beitrag beschreibt deshalb, was soziale Systeme sind, was sie tun und welchen Einfluss das auf das Controlling und die Steuerung hat.

Was sind soziale Systeme?

Selektion von Kommunikationen

Soziale Systeme werden in der soziologischen Systemtheorie beschrieben, die davon ausgeht, dass sich Systeme ausschließlich aus Kommunikationen zusammensetzen. Nehmen wir als Beispiel ein Projektteam, das die Aufgabe hat, eine Software zu erstellen. Wenn Sie ein Mitglied des Projektteams sind, dann sind Sie, als Person, nicht Teil des sozialen Systems, um das sich die Systemtheorie kümmert. Alles, was Sie im Rahmen ihrer Projektarbeit kommunizieren, ist aber Teil des Systems. Das ist wichtig und es entspricht genau genommen auch unserer Vorstellung. Sie sind ja als Person nicht vollständig in das Projekt verstrickt, Sie nehmen stattdessen eine Rolle ein, in der Sie Beiträge zur Projektarbeit leisten. Diese Beiträge sind die Kommunikationen, um die es geht.

In anderen Systemkonstellationen können die Beiträge, die als Teil der Systemkommunikation geleistet werden, ganz anders aussehen als in einem Softwareprojekt. An die Produktionsstraße eines Automobilherstellers werden z.B. Fahrzeugkomponenten angeliefert. In das System, das die Produktionsstraße betreibt, liefert ein Zulieferer beispielsweise Räder, die Monteure am Fahrzeug anbringen. Dabei betrachten wir sowohl die Lieferung der Räder als auch die Montage am Fahrzeug als Kommunikationen, aus denen sich das System u.a. zusammensetzt. Dies ist eine Verallgemeinerung, die in der Soziologie meines Wissens nicht sehr verbreitet ist. Sie erlaubt es uns aber, den Anwendungsbereich der Theorie so zu erweitern, dass sie auf alle wirtschaftlichen Vorgänge anwendbar wird. Achten Sie bitte mit mir zusammen darauf, dass die Erklärungen in dieser Allgemeinheit sinnvoll bleiben.

Agenten

Systeme entstehen in einem ersten Schritt, wenn handelnde Personen Kommunikationen so auswählen, dass sie im System anschlussfähig sind. In einem Softwareprojekt sind das vielleicht die Funktionsbeschreibungen, die Sie von Experten in einem Interview erfragen. Sie verarbeiten diese Informationen dann in einen Anforderungskatalog für die Software. In der Produktionsstraße für Fahrzeuge wählen Sie die Räder aus, die Montiert werden sollen. In beiden Fällen werden sie prüfen, ob die in das System aufgenommene Kommunikation sinnvoll ist. Im Softwareprojekt werden Sie prüfen, ob die Expertenbeschreibung in den Projektumfang gehört. Bei den Rädern prüfen sie die Spezifikation. Nur wenn alles passt, verarbeiten Handelnde die eingehende Kommunikation im System. Das bedeutet sie ist anschlussfähig.

Um wieder allgemein genug zu bleiben, müssen wir jetzt noch klären, wer diese Handelnden sein sollen. Ich habe mit handelnden Personen begonnen und bin dann zum Schluss wieder allgemeiner geworden. Das liegt daran, dass im allgemeinsten Fall Handlungen von verschiedenen Agenten ausgeführt werden können. Diese Agenten können Menschen sein, aber auch Informationsverarbeitungssysteme oder Roboter. Die Räder könnten auch von einer Maschine an das Fahrzeug gebaut werden. Wir werden später in diesem Artikel klären, warum auch Maschinen oder künstliche Systeme Agenten sein können und wie sie in einem System sozialisiert werden.

Sinnzuschreibung

Um zu erklären, was ein soziales System ist, müssen wir noch klären, wie die Auswahl der Kommunikationen entsteht. Wir haben schon gesehen, dass durch die Auswahl und die Anschlussfähigkeit von Kommunikationen eine gewisse Ordnung entsteht. Diese Ordnung entsteht nicht zufällig, denn sie gründet sich auf eine Sinnzuschreibung zu den Handlungen der Agenten. Die Auswahl von Kommunikationen folgt dem Sinn der Systembildung.

Im Softwareprojekt besteht der Sinn der Auswahl von Interviewergebnissen darin, dass Entwickler mithilfe des Anforderungskatalogs eine Software schreiben sollen, die dem Projektzweck entspricht. In der Produktionsstraße sollen Fahrzeuge hergestellt werden, die den Anforderungen der zukünftigen Käufer der Fahrzeuge entsprechen.

Die Systeme entstehen also durch die auf eine Sinnzuschreibung gegründete Selektion von Kommunikationen.

Wie verhalten sich soziale Systeme und was bewirken sie?

Reduktion von Komplexität

Durch die Selektion von Kommunikationen, die Systeme aufnehmen und verarbeiten, machen sie den ersten Schritt zur Reduktion von Komplexität. Als zweiten Schritt dorthin errichten Systeme eine operationale Abgeschlossenheit, die zwar immer nur partiell ist, aber dazu führt, dass sie sich bei der Verarbeitung von Kommunikationen nur bedingt stören lassen. Systeme verarbeiten Kommunikationen nach ihren eigenen Regeln, die sie nur dann anpassen, wenn sie es selbst für notwendig halten.

Selektion und operationale Abgeschlossenheit sind die Voraussetzung dafür, dass Systeme Informationen verarbeiten und erzeugen können. Diese These kann man gut überprüfen, wenn man sich vorstellt, dass ein System alle Arten von Kommunikationen verarbeitet, die sie erreichen, und dass es keine festen Verarbeitungsregeln im System gibt. Gäbe es beides nicht, dann könnte sich weder ein Akteur, der am Systemgeschehen beteiligt ist, noch ein Empfänger eines Systemoutputs einen Reim darauf machen, welche Bedeutung die ihm vorliegende Kommunikation hat. Selektion und verlässliche Verarbeitung im System führen erst dazu, dass Kommunikation eine interpretierbare Bedeutung bekommt.

Am Beispiel des Softwareprojektes lassen sich diese Überlegungen gut nachvollziehen. Würden diejenigen Akteure, die eine Sammlung von Anforderungen für die Software schreiben, nicht auswählen, welche Informationen sie sammeln, dann wäre die Sammlung für die Entwickler keine Hilfe. Außerdem verarbeiten sie die Interviewergebnisse nach Regeln, die für die Entwickler der Software im nächsten Arbeitsschritt nachvollziehbar ist. Auf diese Weise enthält die Sammlung der Anforderungen Informationen, die den Entwicklern helfen, die Software zu schreiben. Auch hier gilt: würden Interviewer die Anforderungen nicht nach festen Regeln zusammenstellen, sondern z.B. jedes Mal anders, dann können Entwickler das Ergebnis nicht richtig deuten.

Wie operationale Abgeschlossenheit funktioniert und was sie bedeutet, beschreibe ich ausführlich in dem Artikel Komplexität managen mit Operationaler Abgeschlossenheit

Erzeugung von Information

Am Beispiel der Produktionsstraße können wir die Reduktion von Komplexität nicht so gut nachvollziehen, weil nicht klar ist, was Komplexität in diesem Zusammenhang meint. Etwas abstrakter kann man aber sagen, dass der Gebrauch eines Werkzeugs für einen Nutzer umso komplexer wird, je weniger sich der Nutzer auf die Funktionsweise des Werkzeugs verlassen kann. Bei einem Fahrzeug wird die zweckentsprechende Verwendung kompliziert bis unmöglich, wenn es nicht wie vorgesehen funktioniert. Der Nutzer muss bei einem Fehler Maßnahmen ergreifen, um ihn zu beheben. Wenn ihm das nicht gelingt, nützt ihm das Fahrzeug nichts. Die ursprüngliche Komplexität, die ihm das Fahrzeug beheben sollte, nämlich von einem Ort zum anderen zu kommen, oder irgendetwas von einem Ort zum anderen zu transportieren, bleibt erhalten.

Wir können also den Gebrauch des Werkzeugs so interpretieren, dass das Werkzeug einem Nutzer hilft, das Komplexitätsproblem in eine andere Form zu bringen, die es für ihn lösbar macht. Die Erzeugung von Information geht ähnlich vor: sie bringt komplexere Signale in eine Form, die leichter zu interpretieren ist. Es geht in beiden Fällen also um das in-Form bringen. Die Fälle sind vergleichbar. Es erschließt sich jetzt, dass z.B. die Auswahl von Rädern einer ganz bestimmten Spezifikation, der Auswahl von Interviewergebnissen im Softwareprojekt entspricht.

Selbstreflexivität – Kommunikation über Kommunikation

Durch die operationale Abgeschlossenheit können Außenstehende Systeme nur bedingt beeinflussen. Ein System verändert die Selektion von Kommunikationen und seine Verarbeitungsregeln – eine Selektion von Regeln – nur dann, wenn es durch sein Umfeld irritiert wird. Es vergleicht dann das Ergebnis seiner Selektionen mit dem Sinn, auf den es sich gründet, und passt sich bei Bedarf an neue Einflüsse an. Das System führt Vergleich und Anpassung der Selektionen dabei durch Kommunikation über die produktive Kommunikation des Systems aus. Nicht dem Sinn entsprechende Selektionen werden vom System selbst aussortiert, das heißt sie sind im System nicht mehr anschlussfähig. Dieser Vorgang führt zu einer Evolution der Selektionen des Systems.

In einer Projektsituation kennen wir diese Situation. Die Softwareentwickler beklagen, dass sie die Sammlung der Anforderungen nicht gebrauchen können. Das Team, das die Anforderungen zusammenstellt, diskutiert daraufhin, ob es an der Auswahl der Interview-Ergebnisse oder an der Form ihrer Zusammenfassung etwas ändern muss. Stellt sich die bisherige Auswahl als ungeeignet heraus, wird sie fallen gelassen und durch eine neue ersetzt, die den Sinn der Arbeit mutmaßlich besser unterstützt. Im Beispiel der Produktionsstraße gilt genau das gleiche.

Wir nennen diesen Vorgang selbstreflexiv, weil er sich mit den Mitteln des Systems auf die Arbeit des Systems selbst bezieht. Und noch etwas wird deutlich. Das System kommuniziert mit sich selbst über die Art, wie die produktive Kommunikation ausgeführt werden soll. Es erzählt sich dabei selbst eine Geschichte darüber, wie die Produktion durchgeführt werden soll und vergleicht sie mit seinen Beobachtungen. Werden Selektionen geändert, dann passt sich auch die Geschichte an. Das System schreibt oder erzählt sich selbst also eine Geschichte über sich selbst. Dieser Vorgang wird Autopoiesis genannt.

Ordnung und Risiko

Selbstreflexive, autopoietische, operational abgeschlossene Systeme etablieren durch die oben beschriebenen Vorgänge eine partielle, Komplexität reduzierende Ordnung und eine darauf gegründete Rationalität. Das liegt daran, dass die Selbsterzählung des Systems dazu beiträgt, die Kommunikationen – produktive Kommunikation und Kommunikation über Kommunikation – im System zu deuten. Die Kommunikationen – beide Arten – stützen wiederum die Selbsterzählung des Systems. Dadurch, dass Selektionen wenigsten für eine Zeit lang stabil sind, etablieren sie eine Ordnung im System, die von allen Beteiligten als rational und begründet wahrgenommen wird. Das gilt wenigsten so lange, bis das System und damit seine Ordnung von seiner Umgebung irritiert wird.

Riskante Ordnung

Und darin liegt das größte Problem der Ordnung des Systems. Sie bleibt riskant, weil sich Sinnzuschreibungen und Selektionen jederzeit als fehlerhaft oder hinfällig herausstellen können. Das System übersieht eventuell Einflüsse in seiner Umgebung, die dazu führen können, das es seinen Zweck nicht mehr erfüllt.

An unseren Beispielen kann man diese Gegebenheiten gut beobachten. Am stärksten werden Ordnungen von technischen Verfahren impliziert. Das liegt daran, dass die Auswirkungen von Abweichungen in der Produktion gut vorhergesagt werden können. Die Ordnung des Ablaufs bestimmt auch die Rationalität des Systems. Auswahlkriterien müssen strikt eingehalten werden, um nicht zu Fehlern zu führen. Die gute Vorhersagbarkeit führt auch dazu, dass die Risiken der Festlegung auf die Ordnung des Systems gering sind. Mit geringer Wahrscheinlichkeit aber großem Ausmaß führen in solchen Systemen meist unerwartete Abweichungen zu Schäden.

In einer Projektsituation stellt sich die Situation schon anders dar. Selektions- und Verarbeitungsregeln sind meist sehr viel veränderlicher. Es geht z.B. bei den Anforderungen um Sachverhalte, die sich einer vollständigen Beschreibung gerne widersetzen, strittig werden, oder durch die nachträgliche Verschiebung des Projektauftrags eine andere Priorität bekommen. Projekte sind hier meist sehr wachsam. Es etabliert sich daher eher eine Ordnung für die Verfahrensregeln. Aber auch hier gibt es Diskussionspotenzial, weil Projektteilnehmer andere Erfahrungen oder Vorstellungen haben können. Üblicherweise findet sich aber nach einiger Diskussion eine Ordnung, die das Projekt produktiv werden lässt. Die Risiken bestehen dann darin, dass das System Veränderungen von Umweltbedingungen nicht mehr wahrnimmt.

Welchen Einfluss hat das auf das Thema Controlling und Steuerung?

Steuerung von außen und von innen unterscheidet sich

Die Art, wie sich Systeme konstituieren und verhalten, führt zu der Schlussfolgerung, dass Systeme sich selbst von innen heraus verändern. Eine Veränderung von außen ist prinzipiell nicht möglich. Allerdings gelingt es Einflüssen von außen, Systeme zu irritieren und das System auf diese Weise zur Veränderung zu veranlassen. Das heißt,

  • Eine Steuerung von Systemen erfolgt durch Systeme selbst, also aus ihrem Inneren, indem sie sich verändern. Wer steuert, der handelt als Teil des Systems.
  • Eine Steuerung von Systemen erfolgt von außen, indem ihre Umgebung sie beeinflusst, dadurch irritiert, und sie veranlasst sich selbst zu verändern. Wer steuert, der handelt eher als Stakeholder, denn als Teil des Systems.

Beide Steuerungsmechanismen werden eingesetzt. Wer steuert, muss die Mechanismen aber unterschieden, damit er sie wirksam einsetzen kann.

Diese Feststellung können wir am Beispiel des Softwareprojektes gut nachvollziehen. Nehmen wir an, das Projektteam hat festgestellt, dass es sein Entwicklungsbudget reduzieren muss, weil die erwarteten Erträge oder Einsparungen aus dem Projektergebnis geringer ausfallen werden. Es stellt fest, dass es zu einer Budgetüberziehung kommt, wenn das Projekt sein Verhalten nicht anpasst. Das Team diskutiert darüber, wie Kosten reduziert werden können und passt die Selektion von Kommunikationen oder Verarbeitungsregeln so an, dass geringere Kosten erwartet werden.

Für den Fall, dass der Impuls zur Reduzierung des Budgets von außen kommt, sieht der Vorgang ähnlich aus. Er unterscheidet sich aber, weil die Budgetreduzierung zunächst im Projekt zu einer Irritation führt. Erst wenn das Projektteam die Irritation als maßgeblich einordnet, die voraussichtliche Budgetüberziehung nachvollzieht und entscheidet, seine Selektionen anpassen zu müssen, führt es die Diskussion, wie Kosten reduziert werden können. Im Ergebnis passt das Team die Selektionen so an, dass geringere Kosten erwartet werden. Jeder Praktiker weiß, dass dies ein schwieriger Weg sein kann.

Wir steuern immer soziale Systeme

Meine These ist, dass sich Controlling und Steuerung immer auf soziale Systeme beziehen. Bei einem Softwareprojekt, bei dem es ein Projektteam gibt, scheint das sofort einzuleuchten. Allerdings habe ich gesagt, dass das System aus Kommunikationen besteht, die durch die Steuerung verändert werden. Das ist hier aber offensichtlich nur ein technischer Aspekt.

Bei unserem Beispiel der Produktionsstraße liegen die Dinge schon etwas komplizierter. Immerhin haben wir festgestellt, dass auch Maschinen oder Roboter als Agenten auftreten können. Ihre Kommunikationen bestehen aus der Arbeit, die sie leisten. Außerdem gibt es Zulieferer, die z.B. die Räder für ein Fahrzeug liefern. In diesem Fall sind die Räder die Kommunikation der Zulieferer. Die Produktionsstraße wird aber immer noch von Menschen organisiert oder sogar betrieben. Sie können ihre Maschinen anders programmieren oder die Spezifikationen für Zulieferungen ändern. Wir haben es offenbar immer noch mit einem sozialen System zu tun.

Artefakte steuern

Wie sieht es aber aus, wenn ich eine einzelne Maschine steuern will, z.B. den Roboter, der die Räder am Fahrzeug montiert? Nehmen wir an, er sei aus irgendeinem Grund nicht mehr schnell genug. Als Maschine lässt sich der Roboter dadurch nicht irritieren. Das interessante ist, und darauf hat Bruno Latour hingewiesen, dass solche Maschinen Sprecher finden, die sich für sie einsetzen und genau die fehlenden Rollen ersetzen, die eine Maschine nicht einnehmen kann. Findet die Maschine keinen Sprecher, wird nicht irritiert und bleibt deshalb zu langsam, dann verliert sie früher oder später ihre Position im Ensemble der Produktionsstraße. Ihre Kommunikationen, also ihre Arbeitsleistung, finden nicht mehr Anschluss im System der Produktionsstraße. Die Maschine wird wahrscheinlich aussortiert.

Wenn die Maschine aber einen Sprecher findet, der sich dafür einsetzt, dass ihre Selektionen angepasst werden – nehmen wir einmal an, sie kann so programmiert werden, dass sie anschließend schneller ist – dann bleibt ihre Kommunikation weiter anschlussfähig und die Maschine im Ensemble erhalten. In diesem Fall bilden die Maschine und ihr Sprecher, es können natürlich auch mehrere sein, ein soziales System. Die Rollen der Maschine und des Sprechers ergänzen sich, so dass das aus den beiden bestehende System vollwertig agiert. Es verändert sich dann bei Bedarf aus sich selbst heraus.

Dieser Mechanismus, dass leblose Artefakte ihre Sprecher finden, zu Systemen und vollwertigen Akteuren werden, lässt sich weitertreiben und auch auf sehr einfache Artefakte anwenden. Eine Betonschwelle an der Einfahrt in eine verkehrsberuhigte Zone ist ein solches Artefakt. Sie könnte mit der Zeit zerbröseln und einen Teil ihrer Funktion verlieren. Findet sie dann keinen Sprecher, der sich für ihre Erneuerung einsetzt, dann wird sie irgendwann beseitigt. Ich plädiere deshalb dafür, künstliche Objekte in unseren Überlegungen ebenfalls als soziale Agenten zu behandeln.

Und was bedeutet das jetzt?

Ich möchte drei Ergebnisse festhalten, die ich für bedeutsam halte.

  1. Was wir steuern, sind soziale Systeme. Sie werden von der Soziologischen Systemtheorie, deren sicherlich prominentester Vertreter Niklas Luhmann ist, sehr genau beschrieben. Aus dieser Theorie wissen wir, dass Systeme ihre Eigenarten haben. Das sollten wir berücksichtigen, wenn wir sie von außen oder von innen steuern wollen.
  2. Im Kern geht es bei der Leistung von Systemen wahrscheinlich immer um irgendeine Form der Komplexitätsreduzierung. Interessant ist es, dass wir diese Leistung in Komponenten zerlegen und die Komponenten wiederum zur Bearbeitung an soziale Systeme abgeben können. Wir erkennen darin das Muster, das wahrscheinlich hinter der modernen Arbeitsteilung steht. Natürlich wissen wir, dass Arbeitsteilung ihre eigenen Probleme schafft, sie ist an der richtigen Stelle aber auch ungemein effizient.
  3. Wir wissen aus der genau umgekehrten Perspektive jetzt auch, dass Systeme miteinander kommunizieren und auf diese Weise kompliziertere Aufgaben erledigen. Theo Gehm hat diese Art kooperativer Informationsverarbeitung in sozialen Systemen beschrieben. Die Akteure im System arbeiten wie Knoten in einem neuronalen Netzwerk und beschaffen sich Informationen bzw. Kommunikationen von demjenigen anderen Akteur, von dem sie die beste Zulieferung erwarten. Sie beobachten den Erfolg und passen ihre Auswahl eventuell an. Dies ist genau jener selbstreflexive Prozess, der zu einer evolutionären Verbesserung der Systemleistung führt.
Zentral für die Steuerung

Dieser Artikel erläutert ein aus meiner Sicht ein sehr zentrales Element. Wir wissen jetzt, was wir steuern wollen und können deshalb damit beginnen zu erklären, wie wir steuern wollen. Wir wissen jetzt auch mehr darüber, wie arbeitsteilige Leistungen entstehen. Dieses Wissen können wir einsetzen, wenn wir Leistungserstellung in Modellen darstellen wollen (siehe z.B. meinen Artikel Was mache ich hier eigentlich? Services!). Das ist zentral auch für Steuerung und Controlling, denn beide erfordern modulare Konzepte, wenn sie unter Unsicherheit arbeiten sollen. Wir können jetzt erklären, wie diese modularen Modelle für das, was gesteuert werden soll, und für die Steuerung selbst konzipiert werden können. Das werden wir in weiteren Artikeln aufnehmen.

Alles natürlich mit dem Ziel: make your computers fly!

Wie sich komplizierte Aufgaben bewältigen lassen

Wie sich komplizierte Aufgaben bewältigen lassen

Wie können wir die komplizierten Aufgaben lösen, wenn wir Unternehmen unter Unsicherheit wirklich gut steuern wollen? Wie schreibt man eine gute Dokumentation für die Anforderungen, die wir an Controlling Systeme haben? Wie vermittelt man die komplizierten Zusammenhänge des Unternehmens und seiner Steuerung?

Es gibt Antworten auf diese Fragen. Vielleicht kennen sie das Prinzip der Pyramide von Barbara Minto? Oder die Darwin Information Typing Architecture von IBM? Oder die Entwurfsmuster, die in der Softwareentwicklung eingesetzt werden?

Sie folgen alle den gleichen Prinzipien:

Sie machen Komplexität handhabbar, indem sie Module bilden, die nur lose miteinander gekoppelt sind. Dazu muss man eine Unterscheidung treffen, eine Unterscheidung zwischen dem, was interessiert und dem, was nicht interessiert. Was das ist, entscheiden wir nach dem Zweck, den wir verfolgen. Er gibt der Unterscheidung einen Sinn.

Die soziologische Systemtheorie und die Actor-Network Theorie erklären, wie das geht. Und, wo man aufpassen muss. Die Verfahren, die wir dabei anwenden, sind universell, aber durchaus riskant. Es lohnt sich, genau hinzuschauen.

Ich bereite deshalb gerade einen Beitrag vor, der uns mit etwas Theorie versorgen wird. Es geht dabei um soziale Systeme, denn in der Systembildung können wir die Muster erkennen, mit denen wir Komplexität handhabbar machen. Wir werden auch sehen, dass genau sie Gegenstand der Steuerung sind, und zwar als Objekt und als Subjekt.

Mit dieser Vorbereitung werden wir damit beginnen können, genauer zu beschreiben, was wir steuern wollen, wie wir steuern wollen. Beides sind Voraussetzungen dafür richtig gute Controlling Systeme zu bauen, die auch unter Unsicherheit schnell und flexibel reagieren können.

Weil es jetzt mehr um die Arbeit in Kooperation mit anderen Menschen geht, wechseln wir vom Motorradfahren zum Bergsteigen. Ich hoffe, das findet auch seine Liebhaber.

Komplexität managen mit Operationaler Abgeschlossenheit

Komplexität managen mit Operationaler Abgeschlossenheit

Begriffsbestimmung und Bedeutung für die Organisation von Kommunikation. 

Was nennen wir operationale Abgeschlossenheit? Die Frage begegnet uns immer häufiger und nicht nur in der Soziologie, in der das Konzept maßgeblich von Niklas Luhmann beschrieben wurde. Operationale Geschlossenheit meint, dass jedes System selbst eine Vorgehensweise wählt, ob, wie und wodurch es auf seine Umwelt reagiert. Das bleibt leider abstrakt und erklärt nicht, wie die Geschlossenheit aussieht und wie sie funktioniert. Mit diesem Text will ich erklären, was die in der sozialen Systemtheorie verwendete Figur eines operativ abgeschlossenen Systems bedeutet. Dafür ist es wichtig, ein Beispiel zu finden, mit dem man die Vorgänge erklären kann, die sich dabei ereignen. Wenn die Erklärung gut zugänglich sein und die Tragweite des Konzeptes deutlich werden soll, brauche ich ein allgemeines Beispiel, dem jeder folgen kann, und das nicht danach aussieht, als fänden die Vorgänge nur in sehr speziellen Kontexten statt.

Ich wähle deshalb diesen Text als ein Beispiel für ein operational abgeschlossenes System. Das mag überraschen, weil die Art des Beispiels vermuten lässt, dass es doch abstrakt bleibt. Ich werde versuchen, das zu vermeiden. Der Vorteil meines Beispiels ist, dass es so alltäglich ist, dass man mir die Allgemeinheit abnehmen wird. Es lassen sich auch andere Beispiele finden, die das Phänomen noch besser in seinen verschiedenen Ausprägungen erklären und gleichzeitig die Tragweite deutlich werden lassen. Das sollten wir aber erst in einem nächsten Schritt verfolgen.

Mein Text als Beispiel

Wenn ich meinen Text schreibe, dann habe ich vor Augen, welchen Zweck der Text erfüllen soll. In diesem Fall soll er einem Leser erklären, was man unter operationaler Abgeschlossenheit versteht, wie sie funktioniert und welche Effekte sie erzeugt. Zuletzt will ich noch die Tragweite des Konzeptes deutlich machen.

Reduktion

Ich beginne also zu schreiben und wähle bestimmte Gedanken aus, die mir durch den Kopf gehen und die ich dem Leser vorstellen will. Alles, was mir einfällt, kann ich nicht erzählen. Ich kann auch nicht alles Sagen, wovon ich vielleicht nur eine vage Vorstellung habe, weil mir die Worte dafür fehlen. Also reduziere ich die Gedanken, die ich vortrage, auf einen Kern, der in der Lage ist, Aufmerksamkeit, Anteilnahme und vielleicht eine gewisse affektive Besetzung zu erzeugen. Er soll dabei gleichzeitig deutlich machen, was ich sagen will. In der Reduktion auf diese Gedanken liegt auf jeden Fall eine Energieersparnis. Sie liegt sowohl bei mir, dem Autor, weil ich nicht alles aufschreiben muss. Und sie liegt beim Leser, der ja auch nicht unbegrenzt Zeit zum Lesen hat.

Schemata

Beim Schreiben verwende ich meistens ein Schema, das es dem Leser erleichtert, meinen Gedankengängen zu folgen. Das könnte das Schema sein, dem das klassische Drama folgt, also etwa:

  • Worum geht es?,
  • Wer hat wann was, wo getan, oder was ist passiert?,
  • Was passierte dann?,
  • Und was bedeutet das jetzt?,
  • Was schließlich passiert ist, oder was es bedeutet.

Solche Schemata erlauben es dem Leser, der Argumentation leichter zu folgen. Aus Gewohnheit und praktischer Übung weiß er dann schon, wie der Argumentationsverlauf sein wird.

Sequenzbildung

Den Text gliedere ich in einzelne Abschnitte. Sie behandeln jeweils einen Teil des Handlungsverlaufs und sind in sich besser zu verstehen. Sie reduzieren die Datenmenge, die pro Abschnitt zu verarbeiten ist. Die Abschnitte werden von mir anschließend verknüpft, so dass sich aus den Abschnitten eine Argumentation ergibt. Diese ist hoffentlich in der Lage, das Ziel des Textes zu erreichen. Die Sequenzbildung, die ich so einrichte, erlaubt die Anteilnahme an der Argumentation und bereitet eine Art Problemlösungsgemeinschaft vor. Die Sequenz läuft in der positiven Wendung des Textes aus, der Erklärung und vielleicht dem Aha-Effekt beim Leser.

Gegenseitige Toleranz

Ein entscheidender Beitrag für die Aufnahme des Textes durch den Leser besteht dabei in der von mir nicht vollständig festgelegten Argumentationskette zwischen den Abschnitten des Textes. Die vollständige Kontrolle über die Argumentation wird mir schon deshalb nicht gelingen, weil ich mich mit dem Umfang des Textes beschränken muss. Und ich kann nicht wissen, welches Vorwissen und welche Vorstellungen der Leser des Textes mitbringen wird. Vielleicht versteht er Argumente anders oder kann ihnen nicht folgen, weil er eine andere Vorstellung von den Umständen hat, auf die ich meine Argumente stütze. Diese nicht vollständig determinierte Zone zwischen den Modalitäten der Verknüpfung erlauben es dem Leser nun aber, seine eigenen Erwartungen an die Argumentation beim Lesen des Textes einzubringen. Er kann sich den Text in bestimmten Grenzen so zurechtbiegen, dass er zu seinem Vorverständnis passt.

Auf diese Weise ist der Text in der Lage, sich zwischen die Rollenfunktionen von mir als Autor und dem zukünftigen Leser des Textes zu schieben. Wenn es gut läuft, dann hat der Leser Verständnis oder Toleranz für den Text und der Text hat Toleranz für den Leser.

Reflexion durch den Autor

Wenn der Text jetzt geschrieben ist, dann hat er seine ganz eigene Struktur. Sie besteht aus der Auswahl von Begriffen, dem Plot, also den Einzelereignissen und ihrer Verbindung zu Episoden. Damit ist festgelegt, was in meinem Text als Ereignis gelten darf. Und es gibt eine Rollenerwartung an den Autor und den Leser, die sich in einer Erwartung an Teilnahme und Teilhabe zeigt.

In Gedanken gehe ich noch einmal durch, ob der Text, so wie er ist, in der Lage sein wird zu sagen, was ich ausdrücken will. Die Auswahl der Begriffe wird noch einmal vor dem Hintergrund des Gesamtwerkes geprüft. So auch der Plot. Sind die Reduktion und die Sequenzierung gelungen? Wird der Leser in der Lage sein, der Argumentation zu folgen, auch wenn er an manchen Stellen vielleicht zögert? Dies ist ein reflexiver Vorgang, der sich auf die im Text vorhandenen Elemente stützt, seine Selektionen vor dem Hintergrund möglicher Außenweltbezüge und meiner Erwartungen prüft, und sich vor allem an dem Sinn des Textes orientiert. Eventuell muss ich an meinen Selektionen noch einmal etwas ändern. Der reflexive Vorgang selektiert die Selektionen, die der Autor im Text vorgenommen hat.

Aufnahme des Textes durch den Leser

Der Leser des Textes geht ähnlich vor wie der Autor. Der Leser nimmt das Schema des Textes wahr, seine Sequenzierung und Rahmung. Er nimmt die Innenwelt des Textes auf, also seine Begriffe, die Verknüpfungen zwischen Abschnitten. Und er aktualisiert die Außenweltbezüge des Textes mit seinen eigenen Vorstellungen und seiner eigenen Auslegung der Bezüge. Die Lücken, die ich als Autor bei der Verknüpfung der Sequenzen oder der Detaillierung der einzelnen Ereignisse gelassen habe, füllt der Leser nach seinen Vorstellungen. Er interpretiert den Text und muss sich schließlich fragen, ob er der Argumentation folgen konnte und ob der Text ihm die Fragen beantwortet hat, die er an den Text hat.

Normalerweise bleibt dabei ein Rest an unerklärten Begriffen und Bezügen übrig. Sie müssen zu der Frage führen, ob der Leser den Text wirklich verstanden hat und wie gut die Fragen durch den Text beantwortet wurden. Vor dem Hintergrund seiner Interpretation prüft der Leser deshalb noch einmal, ob er den Text auch anders lesen könnte. Kann er Begriffe anders auslegen, die Lücken in den Verknüpfungen anders füllen, und vor allem kann er dieser anderen, alternativen Interpretation mit seinen Erwartungen und mit seinem Vorverständnis dann noch folgen? Der Leser vollzieht so einen ähnlich reflexiven Prozess, wie der Autor, nur andersherum. Er verwendet die Elemente, die ihm der Text bietet, versieht sie mit seiner Interpretation der Außenweltbezüge des Textes und seinen eigenen Vorstellungen.

Autor und Leser sind über den Text auf eine lose Art miteinander verbunden.
Gemeinsame Sinnwelt von Autor, Text und Leser

Die Vorgänge, die Autor und Leser mit dem Text vollziehen, sind sich auf eine gewisse Art ähnlich. Sie verwenden jeweils die Elemente des Textes und ihre eigenen Vorstellungen, um eine gemeinsame Sinnwelt zu erzeugen. Diese Sinnwelt, oder um einen Begriff von Maurice Merleau-Ponty zu verwenden, diese Zwischenleiblichkeit ist operational abgeschlossen. Sie arbeitet mit der abgeschlossen Menge von Elementen, die sich aus den Elementen des Textes und den Elementen des Weltbildes von Autor oder Leser ergeben, die sie zum Verständnis des Textes abrufen. Unter diesen Elementen wird ausgehandelt, ob sich ein konsistenter und sinnvoller Zusammenhang herstellen lässt. Der Sinn der Aktionen bestimmt dabei das Zielbild. Es bleibt aber fragil, weil es sowohl beim Autor als auch beim Leser diese nicht vollständig determinierten Zonen im Text gibt, die es erforderlich machen, den Sinn des Lesens oder Schreibens mit seinem Ergebnis abzugleichen.

Weil die Sinn-Ergebnis-Verknüpfung in solchen Systemen immer kontingent, das heißt nicht vollständig bestimmbar bleibt, zwingen die Selektionen des Systems, also die Auswahl von Begriffen oder die Auswahl der Interpretation von Begriffen, das System dazu, sich selbst, also seine Selektionen noch einmal zu hinterfragen. Dieser reflexive Prozess gehört zwangsläufig zur operationalen Abgeschlossenheit sozialer Systeme.

Abgeschlossenheit der Struktur des Textes

Wenn man den Begriff der operationalen Abgeschlossenheit noch etwas abstrakter auffasst, dann lässt er sich auch auf den Text selbst anwenden. Der Text ist zwar nicht in der Lage, seine Elemente eigenständig zu reflektieren, aber er löst einen solchen Prozess bei jedem Lesen aus. Dabei determiniert er durch seine Begriffe, den Plot und die Ereignisse, was ein Leser als Grundstoffe für seine Interpretation zur Verfügung hat. Diese Elemente beziehen sich im Text nur gegenseitig aufeinander. Für eine Interpretation bleibt nichts anderes übrig als das, was der Text zur Verfügung stellt.

Der Leser kann nur anhand der Elemente des Textes prüfen, ob die Mitteilungen des Textes sinnvoll sind, oder ihm durch eine andere Auslegung sinnvoll erscheinen können. Die Grundform, auf der die Interpretation des Textes beruht, ist operational abgeschlossen.

Der Text enthält nur zusätzlich noch jene Lücken der nicht vollständig determinierten Begriffe und Argumente, die Autor und Leser für sich zusammen mit dem Text erschließen. Der Text lässt einen größeren Spielraum bei der Interpretation von Begriffen, Bildern, Metaphern, bei der Auslegung des Erzählschemas und bei den tatsächlichen Rollen, die vom Autor und vom Leser beim Schreiben oder Lesen des Textes eingenommen werden, als das später in der Zwischenleiblichkeit der Fall ist, die sich zwischen Text und Leser bildet.

Auswirkungen der Abgeschlossenheit

Systemverhalten ist kontingent

Einer der wichtigsten Effekte dieser Abläufe und damit der operationalen Abgeschlossenheit ist, dass jedes der hier beschriebenen Systeme nicht alle ihre Geheimnisse preisgibt. Ein Leser des Texts kann nicht wissen, was der Autor mit dem Text wirklich sagen wollte und welche Zwiesprache zwischen Autor und Text stattgefunden hat. Nicht einmal der Autor kann sagen, was der Text wirklich aussagt, weil er nicht wissen kann, wie ein Leser die Außenweltbezüge und Lücken des Textes füllt. Der Autor kann sich nicht sicher sein, dass er den Text so geschrieben hat, dass was er sagen wollte beim Leser ankommt.

Was zwischen Leser und Text vorgeht, kann uns der Leser zwar sagen, aber was ist mit dem Unsagbaren, den latenten Zweifeln, die der Leser vielleicht hat? Wir können über dieses Ringen des Lesers mit dem Text nur das erfahren, was uns der Leser berichtet. Und auch dann bleibt es für uns nur zu einem Teil nachvollziehbar.

Abgeschlossenheit als Bedingung der Möglichkeit, Information zu verarbeiten

Es ist ziemlich einleuchtend, dass die Beschränkung dessen, was gesagt wird, die einzige Möglichkeit ist, überhaupt etwas zu sagen. Wer alles sagt, sagt im Grunde genommen nichts. Der Text als Struktur operiert auf einer Selektion von Elementen, also Begriffen, Schemata, usw., die als ein abgeschlossenes Gebilde aufeinander verweisen, und auch nur so eine Information erzeugen. In der Systemtheorie würde man sagen, die Abgeschlossenheit des Textes ist die Bedingung der Möglichkeit, Information zu sein.

Gleiches gilt für die Verarbeitung von Informationen in Systemen. Jedes System, das Informationen verarbeitet, muss auswählen, welche Informationen es verwenden und welche es ignorieren oder verwerfen will. Andernfalls würde es mit der Menge an Daten, die es aufnimmt, nicht fertig werden und zu keinen Ergebnissen kommen. Mit dieser Selektion von Informationen verschließt sich das System gegenüber bestimmten Einflüssen. Auch die Regeln, nach denen Informationen interpretiert und verarbeitet werden, müssen sich beschränken. Das System verarbeitet die aufgenommenen Informationen nach seinen Regeln und erzeugt ein Ergebnis. Auch hier gilt, ohne Selektion welche Informationen aufgenommen werden und wie sie verarbeitet werden, käme kein System zu einem Ergebnis.

Teilbarkeit von Systemen

Es ist außerdem gut zu erkennen, dass es die im Text angelegte Sequenzierung erlaubt, das Konzept der operationalen Abgeschlossenheit auch auf Teile des Textes anzuwenden. Diese Sicht kann man weiterführen bis auf die Ebene einer einzelnen Bezeichnung. George Spencer Brown hat in seinen ‘Laws of Form’ beschrieben, wie selbst der Vorgang des Bezeichnens ein operational abgeschlossener Prozess ist, der reflexiv auf sich selbst verweist. Nach seiner Darstellung ist Bezeichnen das gleiche, wie eine Unterscheidung zu treffen. Durch die grundlegende Operation des Unterscheidens entsteht letztlich, mehrfach zusammengesetzt, der Raum, an dem wir uns orientieren und über den wir reden.

Systembildung aus Kommunikationen

Um das Konzept in die andere Richtung zu erweitern, also zu einem Begriff der soziologischen Systemtheorie, müssen wir im ersten Schritt den Begriff des Textes, auf den der Kommunikation erweitern.

Ein abstrakter Kommunikationsbegriff

Kommunikation enthält dann außerdem andere Arten von Texten, nämlich z.B. Bilder und Gesten, die sehr ähnlich funktionieren und sich auch aus Innenwelt- und Außenweltbezügen zusammensetzen. Man kann schnell für sich selbst prüfen, dass das Gesagte auf Bilder und Gesten anwendbar ist. Und es kann wiederum auch auf Handlungen erweitert werden, wenn man einen Punkt berücksichtigt: nicht jede Handlung ist im Sinne des Systems automatisch auch Kommunikation. Eine Handlung erzeugt immer ein Signal, das nur dann als Kommunikation im System aufgefasst wird, wenn der Empfänger mit ihr eine Intention verbinden muss. Wer genau im Einzelfall handelt, ist dann aber schon wieder komplizierter, und muss uns hier nicht im Detail interessieren.

Konstitution durch Kommunikation

Mit dem allgemeineren Begriff der Kommunikation können wir nun in einem zweiten Schritt den Soziologen folgen und verstehen, was sie mit operationaler Abgeschlossenheit von sozialen Systemen meinen. Diese Systeme bilden sich als Selektionen von Kommunikation und funktionieren, wenn die ausgewählte Kommunikation im System anschlussfähig ist und deshalb fortgesetzt wird. Was anschlussfähig ist oder wird, entscheidet sich an dem Sinn, der das System begründet. Diese Systeme sind operational abgeschlossen, weil sich Kommunikation immer nur auf Kommunikation bezieht (in ihrer besonders allgemeinen Definition) und dabei gleichzeitig die durch den Sinn begründeten Selektionen durchführt.

Die Kommunikation enthält Innenwelt- und Außenweltbezüge. Sie ist also weder von dem isoliert, was in der Umwelt passiert, noch vollständig von ihr abhängig. Für einen Außenstehenden bleiben die Verarbeitungsregeln des Systems auf diese Weise nicht vollständig durchschaubar. Soziale Systeme kommunizieren außerdem mit sich selbst über ihre eigene Kommunikation und selektieren dadurch ihre Selektionen. Ihr Sinn wird durch diesen reflexiven Prozess eventuell präziser eingesetzt, oder neu gefasst. So kann er sich auf ein verändertes Umfeld einstellen.

Die Abgrenzung sozialer Systeme von ihrer Umwelt geschieht, weil sie ausschließlich aus Kommunikationen bestehen, über die Selektion derjenigen Kommunikationen, die im System Beachtung und Anschluss finden. Wenn wir festlegen wollen, was genau zu einem System gehört und was nicht mehr, haben wir es deshalb mit einer ziemlich fluiden Definition zu tun.

Vernetzung von Systemen

Da soziologische Systeme selbst auch Kommunikation erzeugen, die an ihre Außenwelt gerichtet ist, kommt es selbstverständlich vor, dass Systeme an der Gestaltung von anderen Systemen beteiligt sind. Der in diesen aus Systemen zusammengesetzten Systemen verhandelte Sinn, und damit die Selektionen ihrer Kommunikation, sind selbstverständlich andere als diejenigen der beteiligten Systeme. Ich vermeide es hier außerdem sorgfältig, von Hierarchien zu sprechen, weil die Vorstellung einer Über- oder Unterordnung nicht notwendig ist. Es entwickeln sich zumindest Netzwerke, die eine Landschaft aus Sinnzusammenhängen von Kommunikationen begründen. Die Bedeutung einzelner Systeme ergibt sich eher daraus, wie viele und welche Kommunikationsströme bei ihnen zusammenfließen. Manchmal ist ihre Bedeutung daran zu erkennen, mit welchen Objekten, z.B. Gebäuden, sie sich umgeben, oder wie ihre Sprecher auftreten bzw. kommunizieren.

Strukturierung durch Sinn

Zusammenfassend können wir feststellen, dass sich das Prinzip der operationalen Geschlossenheit an sehr vielen Stellen beobachten lässt. Es durchzieht unsere Lebenswelt von der einfachen Bezeichnung von Irgendetwas bis zur Gestalt sehr wirkmächtiger Systeme und Institutionen. Und es ist dabei in den verschiedensten, oft fluiden und auch oft undurchsichtigen Konstellationen zu beobachten.

Was all diesen Erscheinungen gemeinsam ist, das ist der Versuch, die Welt durch Sinn zu strukturieren, und damit sonst problematische Komplexität der Welt zu ordnen, handhabbar zu machen. Dieser Versuch hat nur leider seinen Preis. Die Reduktion der Verarbeitungsregeln und ihre operationale Abgeschlossenheit sorgen dafür, dass sie selbst und damit auch ihre Ergebnisse nicht transparent sind. Die Ordnung, so wie sie entsteht, enthält also einen unbegründeten, positivistischen Kern: Selbst schon die Unterscheidung von George Spencer Brown setzt voraus, dass ein Beobachter eine Differenz formuliert und dafür eine Ordnung vorliegt, vor der sich die Differenz abhebt.

Die Reichweite von Sinn

Und noch ein wichtiger Punkt ist zu machen. Anhand meines Textbeispiels habe ich erläutert, wie sich die Bedeutung von Begriffen und Strukturen im Text mit der Aktualisierung der Interpretation der Außenweltbezüge des Textes durch den Leser verändert. Mit der allgemeiner zu verstehenden Kommunikation, die in einem sozialen System verwendet wird, geschieht das Gleiche. Texte, Bilder, Handlungen werden vor dem Hintergrund ausgewertet, der für sie in dem jeweiligen Umfeld und den jeweiligen Momenten maßgeblich ist. Sie aktualisieren dabei direkt oder indirekt, welche Selektionen von Selektionen ausgeführt werden und wie konstituierender Sinn verstanden wird. Einfacher ausgedrückt, die Kommunikation aktualisiert das Weltverständnis des Systems und damit die Basis für die Interpretation von Kommunikation.

Im Ergebnis unterscheidet sich theoretisch, fast immer aber auch praktisch, was innerhalb eines Systems unter einem Begriff verstanden wird und wie die Strukturen der Kommunikation, also z.B. die Sequenzen eines Textes, wirken. Unsere Welt besteht aus einem Patchwork an Weltverständnissen.

Update des Kommunikationsschemas

Wir können uns deshalb von dem klassischen Kommunikationsschema verabschieden, das auf dem Vierschritt des Senders, der Codierung einer Nachricht, der Decodierung der Nachricht und dem Verständnis des Empfängers beruhte. Es nimmt an, dass Sender und Empfänger den gleichen Code verwenden. Das trifft aber nicht zu. Die Übermittlung einer Nachricht ist kein passiver Vorgang, sondern bedarf der aktiven Übersetzung, einer Neucodierung der Nachricht. In einem Sprachraum befinden sich deshalb Zonen von geringerer und größerer Sinndichte. Die Übertragung von Nachrichten enthält ein Moment der Brechung, das Übersetzung und Transformation in sich trägt. Und sie macht die Fähigkeit, mehrere ‚Sprachen‘ verwenden zu können, zu einer wichtigen funktionalen Eigenschaft von Kulturräumen.

Die Kosten gemeinsamen Verständnisses

Man ahnt es vielleicht schon. Wir können die Zonen unterschiedlicher Sinndichte und die Zonen unterschiedlichen Weltverständnisses als in einem gewissen Ausmaß gegeneinander operational abgeschlossen betrachten. Das wird insbesondere überall dort gut sichtbar, wo sich Sprache als Ausdruck einer funktionalen Spezialisierung formt, einerseits um Sachverhalte differenzierter verhandeln zu können, andererseits vielleicht auch, um sich abzugrenzen. Am Beispiel der Sprache erkennt man aber auch gut, dass die operationale Abgeschlossenheit keinesfalls strikt sein muss. Sie macht sich manchmal nur dadurch bemerkbar, dass sich bestimmte kulturelle Milieus nicht mehr gut verstehen, oder dass ein kultureller Geltungsanspruch in der Peripherie seiner räumlichen Ordnung zunehmend Begrenzung erfährt. Es entsteht das Bild eines „Pluriversums finiter Raumwelten“[1], das nicht mehr einheitlich strukturiert werden kann. Die rationalistische Vorstellung, dass sich Wissen ohne Widerstand und auf weitere Strecken ohne zusätzliche Kosten verbreiten lässt, ist unrealistisch geworden.

[1] Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung, S. 114

Fazit

Konnte der Text erklären, was operationale Abgeschlossenheit ist und wie sie funktioniert? Wurde deutlich, was die Auswirkungen sind und welche Tragweite das Konzept hat? Wir schließen hier mit der Reflexion, die ich ganz am Anfang meines Textes beschrieben habe. Welche Behauptungen über unsere Welt stellt der Text auf, die Sie veranlassen, Ihre Erwartungen noch einmal zu reflektieren?

Das Schema verfolgen

Folgen wir noch einmal den Schritten des Dramas: Wir sind den Wegen gefolgt, die wir als Autor und Leser gemeinsam mit dem Text gehen. Der Text hat uns, wenn es gut gelaufen ist, jeweils einen Spielraum gelassen, der es uns erlaubte, unsere eigenen Interpretationen einzubringen. Er war uns gegenüber tolerant und wir ihm gegenüber wahrscheinlich auch. Sonst hätten sie vielleicht nicht bis hierher gelesen. Wir haben jeder für uns eine eigene Vorstellung davon entwickelt, was operationale Abgeschlossenheit ist und was sie bewirkt. Der Text hat wahrscheinlich seine eigene Vorstellung davon. Die kenne nicht einmal ich als Autor.

Der Text nimmt Komplexität auf

Aber was bedeutet das jetzt? Wir stellen fest, die operationale Abgeschlossenheit ist die Voraussetzung dafür, dass ein durch Sinn strukturiertes Medium entsteht, mit dem wir über Sachverhalte in unserer Welt kommunizieren. Anteil daran haben die Konzentration auf das Gesagte und genauso die Lücken, die das Nicht- oder Nicht-genau-gesagte lassen. Die Lücken schließen sich zum Teil, indem sich die Elemente des Textes auf sich selbst beziehen, und den Leser mit seinen Vorstellungen zu einem Spiel einladen.

Der Text handelt geschlossen und offen zugleich und nimmt dabei einen Teil der Komplexität auf, die unser Thema bestimmt. So sind wir als Autor und Leser in der Lage uns über ein Thema zu verständigen, das nie zu Ende diskutiert werden kann.

Systeme handhaben Komplexität

Soziale Systeme, mit denen wir es in unserem Alltag zu tun haben, gehen genauso vor. Sie absorbieren einen Teil der Komplexität, mit der wir es in unserer Welt zu tun haben, indem sie uns eine vereinfachte Antwort auf eines oder mehrere unserer Anliegen geben. In einer Familie z.B. muss ich mich nicht mehr um die Frage der Zugehörigkeit kümmern. Die Familie als System nimmt diese Schwierigkeit auf. Wie jeder weiß, ist die Komplexität damit nicht verschwunden, sondern durch die Familie in andere Formen der Komplexität transformiert, die gelegentlich auch zu anderen Problemen führt.

In jedem Fall ist es die besondere Form der operationalen Abgeschlossenheit, die geschlossen und offen zugleich dafür sorgt, dass die Verhältnisse eine Zeit lang als stabil aufgefasst werden können und so das Zusammenleben ermöglichen. Die Grenzen der Systembildung sind mal stabil und mal veränderlich, sie sind mal klar und mal eher fließend. Das macht die Widerstände aus, die mit dem Begriff der Systemtheorie und der operationalen Abgeschlossenheit verbunden sind. Ohne diese Mühen wäre sie aber auch gar nicht so leistungsfähig, die Vielfalt und Komplexität unserer Welt handhabbar zu machen und zugleich Veränderung zuzulassen.