Automatisierung im Spannungsfeld von Reduktion und Emergenz

Wie stellen Controller eine Entscheidungsgrundlage her und wie kann sie durch Controlling-Prozesse automatisiert werden?

Der Steuerung liegt immer ein Bewegungsentwurf zugrunde. Er bezieht sich auf eine zukünftige Gegenwart und liefert eine Begründung für die zu treffenden Entscheidungen. Man nennt das eine Entscheidungsgrundlage. Sie wird meist vom Controlling bereitgestellt. Die Beschreibung ist dabei immer unsicher, weil die zukünftige Gegenwart nicht mit der gegenwärtigen Zukunft übereinstimmen muss.

Beispiel

Um den Vorgang zu erklären, wählen wir als Beispiel eine Cash-Flow generierenden Maschine. Sie wird im Rahmen einer Investitionsentscheidung beschafft und erzeugt dann in der Folge Cash-Flows. Im Beispiel soll dies eine abstrakte Maschine sein, so dass die Cash-Flows genauso aus der Investition in einen Kundenkredit, aus der Investition in eine Aluminium Strangpressmaschine oder aus dem Erwerb eines ganzen Unternehmens stammen können. Der Bewegungsentwurf für eine solche Investition besteht in unserem Beispiel deshalb aus Cash-Flows. Die Investition erzeugt Cash-Flows im Zeitpunkt der Investition und die abstrakte Maschine erzeugt sie während ihrer Lebenszeit. Diese Vorstellung enthält eine weitere Abstraktion. Denn es interessiert uns nicht nur nicht, was für eine Maschine die Cash-Flows erzeugt. Sondern auch alle anderen nicht-monetären Motive spielen keine Rolle. Diese Feststellung ist wichtig für unser Beispiel.

Codierung als Reduktion

Codierung

Die Allgemeinheit des Beispiel-Modells ist wichtig, weil ich jetzt versuchen kann, verschiedene Investments miteinander zu vergleichen. Um das zu tun, erstelle ich die Kennzahl „Return on Investment“ (ROI), die ich mit der Discounted-Cash-Flow Methode errechne. Dabei werden die im Bewegungsmodell erwarteten Cash-Flows mit einem risikoadjustierten Zins auf den Anfangszeitpunkt der Investition diskontiert und dem Investment gegenübergestellt. Das ist grundsätzliche eine einfache Methode, die jedem Investment einen Wert zuweist, der es codiert.

Entscheidungsgrundlage

Wenn ich in der Rolle eines Entscheiders bin, der Investitionsentscheidungen trifft, ohne sich um die Zusammensetzung des eingesetzten Kapitals kümmern zu müssen, kann ich die Investments jetzt nach ihrem ROI sortieren und mich z.B. für die Investments mit dem höchsten ROI entscheiden. Die Kennzahl stützt sich auf ein klares, methodisch sauberes Konzept, das eine wirksame Basis für eine Erzählung zur Entscheidung liefert. Sie kann wenigstens prinzipiell konsensfähig sein.

Probleme im Detail

Die Probleme liegen hier jedoch im Detail. In die Berechnung des ROI gehen viele Annahmen z.B. darüber ein, mit welchen Cash-Flows in der Zukunft zu rechnen ist. Der ROI unterstellt außerdem, dass es bei der Investitionsentscheidung ausschließlich um einen berechenbaren Geldwert geht, dass Nebenziele z.B. aus einem sozialen Engagement (soweit man sie nicht ebenfalls in Geldwerte umrechnen will) keine Rolle spielen. Zuletzt ist auch der risikoadjustierte Diskontzins alles andere als eindeutig bestimmbar. Er hängt ab vom Risiko des Investments. Damit bestimmt sich der Zins aus einer Risikoeinschätzung der zukünftigen Cash-Flows sowie einer Preiseinschätzung für diese Risiken.

Die Kennzahl reduziert als eine Codierung ihre Aufmerksamkeit auf ausgewählte Effekte und ignoriert alles andere. Das macht sie effizient und nachvollziehbar. Über ihre Berechnungsvorschrift kann ich die Erzeugung der Kennzahl automatisieren. Wenn sie meine Entscheidungsgrundlage darstellt, dann kann ich die Entscheidungsgrundlage automatisiert erzeugen.

Semantische Komplexität

Bei geringen Unterschieden gut anwendbar

Es ist klar, dass sich die Bedeutung des Wertes, den unsere Kennzahl ausweist, nicht unmittelbar jedem Empfänger erschließt. Die Bewertung funktioniert noch gut, wenn ich mit dem gleichen Rechenverfahren sehr ähnliche Investments bewerte und ihre Codierung durch die Kennzahl vergleiche. Das könnten z.B. gleichartige, festverzinsliche Wertpapiere sein, die von ähnlichen Emittenten stammen und sich im Wesentlichen in ihrer Restlaufzeit unterscheiden. Ich kann den ROI dann einfach als Aussage über den Vergleich auffassen, ohne dass ich seinen Wert als eine absolute Größe einordne.

Mit den Unterschieden wachsen die Schwierigkeiten

Sobald die Unterschiede zwischen den Investitionen größer werden, muss ich mich aber fragen, ob die von mir getroffenen Annahmen der Berechnung einen Vergleich noch zulassen. Jeder andere Nutzer der Codierung kennt vielleicht noch nicht einmal meine Annahmen. Er stellt sich zusätzlich die Frage, ob die Annahmen überhaupt zuverlässig und außerhalb von Interessenkonflikten getroffen worden sind.

Die Interpretation ist entscheidend

Wir sprechen hier von semantischer Komplexität, weil es um die Bedeutung des Zeichens (hier dem ROI als Wert) geht, mit dem wir das Investment codiert haben. Die unbeantwortbaren Fragen sorgen dafür, dass die Codierung erstens hätte anders ausfallen können. Und zweitens sorgen sie dafür, dass der Empfänger die Deutung der Kennzahl nach seinem eigenen Kenntnisstand vornehmen muss. Von dem weiß er aber nicht, ob er für eine verlässliche Bewertung ausreicht. Wenn der Empfänger der Codierung die hierdurch entstehende Unsicherheit über die Bedeutung der Kennzahl nicht ausreichend verarbeiten kann, dann wird das Ziel, eine Entscheidung mit der Beschreibung des Bewegungsentwurfs zu rechtfertigen, nicht mehr erreicht.

Was bedeutet das?

Codierung führt immer zu semantischer Komplexität

Die Voraussetzung für die Automatisierung von Entscheidungsgrundlagen besteht darin, dass die Beschreibung von Bewegungsentwürfen codiert wird. Die Codierung basiert dabei auf der Abstraktion des Bewegungsentwurfs, in unserem Beispiel der selektiven Beobachtung von Cash-Flows, und der Projektion der Cash-Flows auf einen Wert, den ich z.B. nach seiner Größe ordnen kann. In unserem Beispiel ist dieser Wert der ROI. Selbstverständlich hätte man jede Entscheidung der Abstraktion und der Projektion auch anders treffen können, aber das ist hier nicht entscheidend. Wichtig ist, dass die Codierung der Entscheidungsgrundlage an anderer Stelle, nämlich beim Empfänger, zu einer semantischen Komplexität führt, die der Empfänger bearbeiten muss. Das passiert immer, egal welche Entscheidungen ich bei der Codierung treffe.

Das Ziel ist gefährdet, kann aber gerettet werden

Maßnahmen, die zur Automatisierung von Entscheidungsgrundlagen getroffen werden, müssen also damit rechnen, dass es für den Nutzer der Entscheidungsgrundlage schwieriger wird, die Bedeutung der Codierung einzuordnen und sie richtig einzusetzen. Sie laufen damit Gefahr, für die Rechtfertigung von Entscheidungen weniger relevant zu werden. Das ist nicht immer der Fall. Und es können Maßnahmen ergriffen werden, die es den Nutzern von Entscheidungsgrundlagen erleichtern, die Komplexität zu behandeln.

Maßnahmen zur Behandlung von semantischer Komplexität

Abhilfe ist in dieser Situation an zwei Stellen möglich.

Erleuterung der Bewertung

Erstens kann neben der Kennzahl eine Erläuterung ihrer Berechnung und der in die Berechnung eingeflossenen Annahmen kommuniziert werden. Das wird außerdem erreicht, wenn die Berechnung weiter differenziert wird. Bei der Investition in eine Aluminium Strangpressmaschine können die erwarteten Cash-Flows z.B. in Gruppen eingeteilt werden, je nachdem ob ein kompliziertes oder ein einfaches Presswerkzeug eingesetzt wird. Die Absatzmärkte und Margen unterscheiden sich für diese Gruppen, so dass die Differenzierung einen besseren Einblick in Chancen und Risiken verschafft. Die Erläuterung von Annahmen kann z.B. enthalten, auf welche Weise der Diskontzins abgeleitet oder ermittelt wird. Diese Zusatzinformation erleichtert den Vergleich mit anderen Bewertungen. Erläuterung und Differenzierung schließen potenzielle Lücken bei der Nachvollziehbarkeit der Bewertung.

Fine Tuning durch Verwendung

Zweitens kann sich ein Zutrauen in die Bewertung der Kennzahl durch wiederholte Verwendung und Rückschau der Ergebnisse entwickeln. Vertrauen entsteht dann durch positive Erfahrungen mit der Verlässlichkeit und Vorhersagekraft der Kennzahl. Die Analyse und Diskussion von Ursachen im negativen Fall und falls hilfreich die Anpassung der Berechnungsverfahren vergrößert die Chancen auf positive Erfahrungen und die Wirksamkeit der Kennzahl. Gleichzeitig stärken sie das nötige Wissen zur Interpretation der Kennzahl.

In diesem zweiten Maßnahmenbündel wird die Herstellung der Kennzahl zum Thema der Analyse, die zur Anpassung der Beobachtung bzw. Beschreibung des Bewegungsentwurfs führt. Stellen wir z.B. als Investor einer Strangpressmaschine fest, dass die Margen bei der Produktion von Aluminiumsträngen mit einfachen Werkzeugen niedriger ausfallen als ursprünglich angenommen, dann können wir diese Annahme anpassen. Oder wir stellen fest, dass unsere Kunden Zahlungsfristen für Rechnungen regelmäßig überziehen. Dann richten wir den Bewegungsentwurf, der den zeitlichen Verlauf der Cash-Flows beschreibt, an der neuen Beobachtung aus.

Das grundsätzliche Problem bleibt zwar bestehen, dass unser Bewegungsmodell Unsicherheiten enthält und damit Komplexität in die Deutung der Kennzahl verschiebt. Die Verwendung und Deutung der Kennzahl entwickelt sich aber in einem evolutionären Prozess zu einem verlässlicheren Verfahren, das nicht-anschlussfähige Berechnungen, Annahmen und Auslegungen mit der Zeit eliminiert.

Warum ist diese Feststellung interessant?

Meine Beschreibung, zu welchen Effekten die Verwendung von Kennzahlen führt, ist nicht gerade weltbewegend. Immerhin wissen wir jetzt, dass Kennzahlen erklärt werden müssen. Wozu also die Mühe und die Verknüpfung mit den Fremdwörtern?

Anforderungen an Informationssysteme im Controlling
  1. Informationssysteme müssen sich darauf einstellen, Nutzern Kennzahlen zu erläutern und deren Bedeutung zu differenzieren. Unschärfen von Deutungen werden dabei nicht immer an den gleichen Stellen auftreten. Das macht es erforderlich, je nach Bedarf, an anderen Stellen detailliertere Informationen einzubauen.
  2. Wenn sich das Zutrauen in Kennzahlen durch praktische Übung verbessern soll, dann ist es auch notwendig, Anpassungen an der Berechnung zu ermöglichen. Dazu muss die Berechnung in den Informationssystemen transparent sein und Änderungen erlauben.
Muster für die Behandlung von Komplexität

Der Vorgang, den ich hier beschrieben habe, ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir Komplexität behandeln. Das ist in der soziologischen Systemtheorie ausführlich beschrieben. Wir haben hier ein einfaches Beispiel gesehen. Die Systemtheorie liefert aber Erklärungen auch für kompliziertere Zusammenhänge, die wir an anderer Stelle gut gebrauchen können.

  1. Sie hilft uns z.B. Anforderungen an Controlling-Systeme zu formulieren und dabei Begründung und Vollständigkeit zu prüfen.
  2. Sie zeigt uns Potenzial und Grenzen von Automatisierungen und kann auf Möglichkeiten für den Einsatz künstlicher Intelligenz hinweisen, bei der wir nicht fürchten müssen, nicht mehr Herr unserer Erzählungen zur Steuerung zu sein.
  3. Und, was mir wichtig ist: Systemtheorie ist keine Wissenschaft, die sich auf weichen Faktoren beschränkt. Ich habe ganz absichtlich ein Beispiel gewählt, das sich auf monetäre Faktoren bezieht und dabei ein großes mathematisches Gewicht haben kann. Das passt gut zusammen.

In dem Beitrag Komplexität managen mit Operationaler Abgeschlossenheit habe ich das Muster zur Handhabung von Komplexität weiter beschrieben. Der Text ist etwas umfangreich, behandelt dafür aber auch Auswirkungen und Anwendungen der Abgeschlossenheit.

In diesem Sinne: Make your Computers fly!

Eine englische Version des Beitrags habe ich auf LinkedIn unter dem Titel „Automation between reduction and emergence“ gepostet.

Für Fragen stehe ich gerne zur Verfügung:
Tel. +49-160 5438306 oder
per mail an frank@fp-consulting.org

2 Gedanken zu „Automatisierung im Spannungsfeld von Reduktion und Emergenz

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