Vernunftordnung und Differenzenlogik – die Verhandlung von Entscheidungsgrundlagen

Was bedeutet Rationalität, wenn Unsicherheit nicht beseitigt werden kann?

Bei der Beschreibung und Codierung von Bewegungsentwürfen gibt es zwei Ursachen, die dazu beitragen, dass Entscheidungen auf ihrer Basis unsicher bleiben.

  • Erstens sind präzise Vorhersagen in der Ökonomie grundsätzlich nicht möglich. Sie beziehen sich nämlich auf Erwartungen, die auch von den Erwartungen anderer Marktteilnehmer abhängen.
  • Zweitens bleibt die Formulierung und Codierung von Bewegungsentwürfen eine Frage der Sichtweise, der Auslegung von Bedeutungen und der Verständigung auf Annahmen.

Kenntnisse, Einschätzungen, Präferenzen sind bei unterschiedlichen Empfängern nicht gleich. So liefert eine Codierung nur scheinbar eindeutige Antworten: die Reduktionen der Codierung eröffnen zusammen mit der generellen Unvorhersehbarkeit zukünftiger Gegenwarten ein Spannungsfeld von Bewertungen. Diese können nicht mehr in falsch und richtig eingeordnet werden. Wir müssen also davon ausgehen, dass es auch bei dem Versuch, eine gemeinschaftliche Erzählung eines Entscheidungsraums zu erstellen, zu unterschiedlichen Auffassungen kommt. Und keine von von ihnen kann noch beanspruchen, allgemeingültig zu sein. (Zur gemeinschaftlichen Erzählung von Entscheidungsräumen als plausibilisierte Quasigewissheit: Priddat, Erwartung, Prognose, Fiktion, Narration; Zur Epistemologie des Futurs in der Ökonomie, Metropolis-Verlag.)

Rekonstruktion von Rationalität

Damit stellt sich auch die Rationalität von Entscheidungsgrundlagen anders dar. Sie kann sich nicht mehr ausschließlich auf ein Vernunftmodell von Ordnung stützen, in dem es ein von allen geteiltes Wissen gibt. Sie muss eine Balance mit den Differenzen der Bewertungen finden. In dieser ist sowohl fokussierte Argumentation als auch die Legitimierung vertretbarer andere Sichtweisen möglich. Das ist besonders deshalb zu beachten, weil mit der Erzählung des möglichen Entscheidungsraums auch eine Vertrauensarena geschaffen werden soll. Hierin dürfen sich Entscheider gemeinschaftlich legitimiert zutrauen, eine Entscheidung zu treffen.

Bei den Erläuterungen der beiden Pole von Einvernehmen und Anerkennung nehme ich noch einmal Bezug auf das Modell einer abstrakten Cash-Flow erzeugenden Maschine. In dem Modell codiere ich Investitionen mit dem ROI auf Basis eines discounted cash-flow Methode. Siehe auch den Beitrag „Automatisierung im Spannungsfeld von Reduktion und Emergenz“.

Vernunft

Eindeutigkeit und Orientierung

In einer Ordnung, die davon ausgeht, dass es möglich ist, durch Argumentation den bestmöglichen Standpunkt für eine Entscheidung zu finden, spielt die Vorstellung von Vernunft eine große Rolle. Zustimmung wird demjenigen Standpunkt zugesprochen, von dem man annimmt, dass er sich aus einem allgemein einsehbaren Grund folgern lässt. So werden legitime Gründe und Sachpositionen knappgehalten und andere Positionen zur Rechtfertigung gezwungen. Auftretende Differenzen werden durch Begründung vernünftiger und Verweigerung der Anerkennung irrationaler Standpunkte reduziert. Geteiltes Wissen folgt dem Wunsch nach Eindeutigkeit und Orientierung.

Am Beispiel der Codierung von Cash-Flow Vorhersagen durch den ROI bedeutet dies, dass Annahmen und Einschätzungen als begründet und ausreichend sicher akzeptiert werden. Anwendungsfälle, in denen sich die einzelnen Investitionen, die miteinander verglichen werden sollen, nicht groß voneinander unterscheiden, erreichen dieses Ziel.

Unsicherheit macht Einigkeit unwahrscheinlich

In einer Situation, in der grundsätzliche Unsicherheit besteht, ist die Koordination durch geteiltes Wissen aber ein unwahrscheinlicher Mechanismus sozialer Handlungskoordination. Er bestärkt eventuell bestehende tiefliegende Konflikttendenzen. Außerdem läuft er grundsätzlich Gefahr, mögliche Kapazitätsgrenzen der Kommunikation zu sprengen, weil einfach nicht alles diskutiert werden kann. Mit der Zumutung der Umorganisation von Überzeugungen erreicht er im schlimmsten Fall die Belastungsgrenzen der Teilnehmer.

Bei der Bewertung von Cash-Flow-Vorhersagen treten unterschiedliche Auffassung häufig auf, wenn sehr unterschiedliche oder sehr individuelle Investitionen bewertet werden sollen. Investitionen im Projektgeschäft sind ein solcher Fall. Abgesehen davon, dass Projektverläufe und die aus ihrem Ergebnis zu erwartenden Geld-Rückflüsse nur sehr schwer vorherzusagen sind, verknüpfen sich Projekte häufig mit nicht-monetären und individuellen Erwartungen, die einen Einfluss auf die Beurteilung monetärer Aspekte nehmen. Dieser Einfluss ist oft kaum aufzulösen.

Bei Gelingen starke Koordination

Im Erfolgsfall ermöglichen Zustimmung und geteiltes Wissen jedoch eine starke Form der Handlungskoordination.

Anerkennung

Legitimität anderer Sichtweisen

Mit der Verständigung auf unterschiedliche Standpunkte erfolgt eine Ausweitung der legitimerweise vertretbaren Sichtweisen. Auf die Anerkennung von Differenz zielende Erzählungen vergegenwärtigen einen lebensweltlichen Kontext, aus dem heraus unterschiedliche Sprecherpositionen nachvollziehbar gemacht werden. Sie erreichen damit die Bestätigung von Individualität, einen Bereich einer vom System anerkannter abweichender Rationalität und eine normative Legitimität von Differenz.

Das lässt sich wieder gut an der Situation im Projektcontrolling erläutern. Ein Bewegungsentwurf, der aus der Vorhersage von Cash-Flows besteht, kann gut in die verschiedenen Lebenszyklus-Phasen des Projektes zerlegt werden. Gibt es verschiedenen Auffassungen über die Cash-Flows einzelner Phasen, dann kann die Vorhersage hier in Alternativen formuliert und bei der Analyse berücksichtigt werden. Tritt dieser Fall an mehreren Stellen auf, dann lässt sich sogar eine Verteilung möglicher ROIs aufstellen. Auf jeden Fall sollte die Differenz Anlass zum Gespräch und vielleicht zur Erhebung weiterer Informationen sein.

Die Anerkennung von Differenz kann in einer Situation der Unbestimmtheit entscheidend sein für eine gemeinschaftliche Erzählung der gegenwärtigen Zukunft. Differenzen greifen möglicherweise Risiken und Bedenken auf, die zur Vermeidung riskanter oder strittiger Handlungen führt. Auf diese Weise werden Fehleinschätzungen von Bewertungsfragen oder Vorhersagen zwar nicht als solche identifiziert, es besteht aber die Möglichkeit, dass aus Vorsicht allzu kritische Deutungen von Codierungen nicht angewendet werden.

Ein Mindestbestand an Übereinstimmung ist notwendig

Bestimmte Praktiken der Verständigung versagen allerdings auch, wenn ein bestimmter Bestand an Überzeugungen nicht mehr geteilt wird. In unserem Beispiel ist das dann der Fall, wenn die Verwendung der Kennzahl vollständig abgelehnt wird. Einverständnis und Anerkennung ergänzen sich an dieser Stelle. Die Relativierung von Ordnungsansprüchen kann es erlauben, dass thematisch eingegrenzte, fokussierte Argumentationen erfolgreich sind. Sie werden dann als Basis der Handlungskoordination wirksam und entlasten die Alltagskommunikation von Konsenszumutungen.

Im Ergebnis könnten in unserem Beispiel zwar alle Beteiligten die Verwendung des ROI unterstützen. Aber sie identifizieren vielleicht Konstellationen, in denen sie sich nicht auf die Kennzahl verlassen und bei Bedarf auf weitere Informationen zugreifen wollen. Diese gemeinschaftliche Einschätzung schafft dann genau die Vertrauensarena, innerhalb derer die Gemeinschafft das Treffen von Entscheidungen legitimiert.

Was bedeutet das?

Differenzierte Entscheidungsräume

In Situationen, in denen Unsicherheit eine eindeutige Einschätzung verhindert, treten fast immer unterschiedliche Sichtweisen auf. Das ist nicht zu verhindern und auch weiter kein Problem, solange sie den Anlass bieten, den Ursachen in weiteren Gesprächen oder Analysen auf den Grund zu gehen. Oder sie werden als Unterschiede akzeptiert und stecken damit den Entscheidungsraum anders ab. Die Differenz bleibt dann als Unsicherheit im Entscheidungsraum enthalten, ist aber zumindest schon benannt.

Eine weitere Analyse sowie eine differenziertere Gestaltung des Entscheidungsraums setzt zwei Dinge voraus:

(1) Die Beschreibung des Bewegungsentwurfs und seine Codierung sind so weit transparent, dass sie von den Beteiligten nachvollzogen werden können. Eine bessere Kommunikation von Annahmen und Methoden sollte hier bestehende Lücken schließen. Oder eine weitere Berechnung differenziert die Schwachstellen.

(2) Die Zerlegung des Analysegegenstands, hier also des Bewegungsentwurfs, erlaubt eine differenziertere Betrachtung. Sie stellt damit mehr Bereiche zur Verfügung, innerhalb derer Übereinstimmung oder Differenz festgestellt werden kann. Im Idealfall können Bereiche, in denen eine unterschiedliche Einschätzung vorliegt, präzise herausgearbeitet werden. Das stärkt Bereiche, in denen man sich einig ist, so dass sie einen möglichst großen Raum einnehmen.

Ein dynamischer Prozess

Ein auf diese Weise abgesteckter Entscheidungsraum kann eine gewisse Zeit eine stabile Basis für Entscheidungen sein. Üblicherweise bleiben die Verhältnisse aber nicht über längere Zeiträume stabil. Änderungen können deshalb erwartet werden. Das kann die Bereiche, in denen es zu Differenzen kommt, verschieben und neue Gespräche und Analysen notwendig machen.

Warum ist diese Feststellung interessant?

Für einen Praktiker aus dem Controlling ist es sicherlich nicht überraschend, dass die Beteiligten die Entscheidungsräume untereinander aushandeln. Wer Verhandlungen führt, weiß auch, dass es leichter ist, eine Verhandlungslösung zu finden, wenn man den Verhandlungsgegenstand differenziert. Jede Partei hat dann die Möglichkeit, eigene Ziele zu erreichen und gleichzeitig Zugeständnisse zu machen. Und natürlich wissen alle erfahrenen Controller, dass die Verhandlung der Entscheidungsräume ein fortwährender, dynamischer Prozess ist. Es lässt sich nicht verhindern, auch wenn es immer mühsam ist.

Anforderungen an Controlling Systeme

Daraus ergeben sich die folgenden Anforderungen an Informationssysteme im Controlling:

  1. Informationsprozesse müssen transparent sein. Die Klärung von Hintergründen und Details macht es erforderlich, bei Bedarf an verschiedenen Stellen weitere Informationen und Verfahren einzubauen. Es ist nicht vorhersehbar, wann und wo der Bedarf entsteht.
  2. Informationsprozesse müssen eine flexible Basis für die Verhandlung von Entscheidungsgrundlagen sein. Auch hieraus ergibt sich die Anforderung, Informationen bei Bedarf weiter differenzieren zu können. Und eventuell muss die Informationsversorgung auch mal wieder vereinfacht werden.
  3. Die Architektur von Controlling-Systemen sollte diese Anforderungen unterstützen. Ich favorisiere dafür modulare Konzepte. Aber das müssen wir ein anderes mal aufgreifen.

In der Hoffnung, dass beim nächsten Mal alles besser wird:
Make your Computers fly!

2 Gedanken zu „Vernunftordnung und Differenzenlogik – die Verhandlung von Entscheidungsgrundlagen

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