Design-Kriterien für Controlling Systeme

Design-Kriterien für Controlling Systeme

Beim Motoradfahren ist es nicht möglich, alle Fahrbedingungen vollständig unter Kontrolle zu haben, weil die Umweltbedingungen zu ungewiss sind. Trotzdem kommt man damit klar. Ich greife die Vorstellung der Bewegungsentwürfe noch einmal auf, um Design-Kriterien für Controlling Systeme abzuleiten. Ich beziehe sie jetzt aber auf die kompliziertere Situation bei der Steuerung von Unternehmen.

Die Automatisierung von Controlling-Prozessen ist keine leichte Aufgabe. Das liegt unter anderem daran, dass das Controlling im Rahmen der Steuerung eine Dienstleistungsfunktion hat. Controlling ist Lieferant von spezifischen Selbstbeschreibungen und Selbstbeobachtungen des Unternehmens und leistet damit einen Beitrag zur Kommunikation im Unternehmen. Dieser Beitrag hat zumeist einen Schwerpunkt auf einer modellgestützten, vernunftorientierten Sicht auf das Unternehmen. Er trägt damit zu einer möglichst rationalen, zielorientierten Selbstbeschreibung bei.

Steuerung erfolgt aber auch auf Basis nicht rationalisierbarer oder nicht in Controlling Systemen abbildbarer Vorstellungen und findet in einem Umfeld von mehr oder weniger großer Unsicherheit statt. Das führt dazu, dass sich die spezifischen Beiträge des Controllings an den Diskurs im Unternehmen und an sich verändernde Umstände anpassen müssen, um relevant zu bleiben.

Es macht also Sinn, sich Gedanken über die Gestaltung von Controlling Systemen zu machen. Um Anforderungen abzuleiten, setzt ich noch einmal bei den Bewegungsentwürfen an. Diese habe ich bereits in meinem Artikel „Vollständige Kontrolle ist eine Illusion“ mit dem Bezug zum Motoradfahren beschrieben.

Bewegungsentwürfe sind riskant

Die Steuerung von Unternehmen setzt auf einem Bewegungsentwurf auf, der meist explizit in Form einer Planung erstellt wird. Er kann aber auch implizit in der Vorstellung einer Gruppe von Entscheidern vorhanden sein und auf diese Weise Handlungen leiten. Unter Unsicherheit wird die Erzählung des Bewegungsentwurfs zur fiktiven Beschreibung einer wahrscheinlichen Realität, auf die sich alle Beteiligten einigen können. So entsteht eine Basis, die nicht Zukunft voraussagt, sondern Anschlussfähigkeit von Entscheidungen.

Jede Form der Erzählung setzt bereits eine Reduktion dessen, was erzählt, wird voraus. Die Darstellung durch mathematische Modelle und die Codierung von Kennzahlen reduziert Sachverhalte noch einmal zusätzlich. Dadurch gewinnen sie an Nachvollziehbarkeit und formelhafter Reproduzierbarkeit. Die Beschreibung wird transparent und automatisierbar. Die modellhafte Beschreibung von Bewegungsentwürfen transportiert damit eine Sicht, die auf Rationalität und eine aus Vernunft ableitbare Ordnung setzt. Wir verlassen uns auf diese Darstellung.

Diese Vorstellung lässt uns aber auch gerne vergessen, dass die Umstände nicht so sind, weil sie so sind, sondern weil wir sie so wahrnehmen beziehungsweise so beschreiben. Die Herausforderungen habe ich in zwei früheren Artikeln dargestellt. Links finden Sie etwas weiter unten.

Die Folgen der Reduktion von Codierung müssen beheben

Die Codierung von Bewegungsentwürfen mit Kennzahlen verkürzt ihre potenzielle Beschreibung. Das macht sie nachvollziehbar, regelbasiert geordnet und erlaubt eine automatisierte Herstellung der Codierung. Die Verkürzung der Beschreibung erhöht auf der anderen Seite die semantische Komplexität. Sie besteht darin, dass der Empfänger der Beschreibung auf Lücken und Auslassungen trifft, die er mit seinem Vorwissen auf eine riskante Weise schließen muss. Eine Verbesserung der Situation tritt ein, wenn sich eine Vertrautheit mit den Verkürzungen der Beschreibung einstellt. Diese kann sich auf positive Erfahrungen oder zusätzliche Informationen stützen. Dieser Umstand wirkt auf die Annahmen und Verfahren der Beschreibung zurück und bewirkt Veränderungen, die sich positive auf die Aufnahme auswirken. („Automatisierung im Spannungsfeld von Reduktion und Emergenz“)

Entscheidungsräume verhandeln

In einem Umfeld, in dem fundamentale Unsicherheit über die Wirksamkeit von Entscheidungen auf zukünftige Gegenwarten besteht, lässt sich keine Vernunft begründen, die einen Standpunkt in allen Aspekten über andere Standpunkte heraushebt. Abweichende Einschätzungen werden zumindest in Teilbereichen bestehen und für die Erzählung eines gemeinsamen Entscheidungsraumes akzeptiert werden müssen. Das erscheint mühsam, kann aber auch nützlich sein. Dann nämlich wenn in Punkten, in denen keine Einigkeit besteht, Vorsicht zur Vermeidung von Risiken führt.

Auf jeden Fall wird es neben Bereichen, in denen die Erstellung von Beschreibungen einvernehmlich automatisiert werden kann, auch Bereiche geben, in denen sich Bewertungen gegenüberstehen und einer fortgesetzten Diskussion unterliegen. Es ist davon auszugehen, dass sich die Teilbereiche, in denen diskutiert wird, fortlaufend verändern, weil sich auch die Verhältnisse im Zeitablauf verändern. Und auch sicher geglaubte Bewertungen müssen neu befragt werden. („Vernunftordnung und Differenzenlogik – die Verhandlung von Entscheidungsgrundlagen“)

Was ist zu tun?

Die von Controlling-Systemen bereitgestellten Informationen sind im Kontext der insgesamt im Unternehmen stattfindenden Kommunikation zu sehen. Kommunikationen des Controllings stehen in Konkurrenz und manchmal im Widerspruch zu anderen Beiträgen, mit denen der Entscheidungsraum beschrieben wird. Er dient als Grundlage von Entscheidungen unter Unsicherheit. Um eine wirksame Vertrauensarena zu schaffen, muss die Erzählung des Entscheidungsraums Zustimmung finden. Hierin besteht das Ziel von Entscheidungsgrundlagen.

Wenn Bewegungsentwürfe riskant sind, dann ist es schwierig ihre Beschreibung z.B. in Kennzahlensystemen zu codieren und Zustimmung zu organisieren. In den beiden Artikeln habe ich aufgezählt, was zu tun ist, um Risiken bei der Beschreibung von Entscheidungsräumen zu vermindern. Risikominderung erfordert in der Regel die Erhebung neuer oder detaillierterer Informationen und bei Bedarf Anpassungen von Verfahren. Wo diese Anforderungen auftreten werden, ist nicht vorhersagbar.

Anforderungen

Mit dem Blick auf die Zielsetzung von Steuerungssystemen, eine gemeinschaftliche Erzählung eines möglichen Entscheidungsraums herzustellen, lassen sich die folgenden Anforderungen an Informationssysteme zusammenfassen:

  1. Alle Teile der Beschreibung des Bewegungsentwurfs brauchen eine transparente Struktur, in der Geltungsansprüche, auf die man sich einigt, mit der nötigen Detaillierung dargestellt werden.
  2. In anderen Teilen der Beschreibung können konkurrierende Versionen entstehen, die mehr oder weniger veränderlich, vielleicht auch automatisiert erstellt werden, und bei widersprüchlichen Signalen weiteren Informationsbedarf ankündigen.
  3. In allen Teilen der Beschreibung muss mit Änderungen gerechnet werden. Das macht es wünschenswert, dass sich Veränderungen an Teilaspekten möglichst wenig auf andere Teile der Beschreibung auswirken.

Diese Art der oben aufgezählten Anforderungen lässt sich am besten mit einer durchdachten Modularisierung erreichen. Die Modulbildung muss sich dabei zunächst auf den Bewegungsentwurf beziehen, der sich als Netzwerk von Teilbewegungen verstehen lassen kann. In einem weiteren Schritt sollte auch auf die Beschreibung des Bewegungsentwurfes aus Modulen bestehen, die sich als Netzwerk von Teilbeschreibung auffassen lassen.

Die Module sollten in beiden Bereichen voneinander unabhängig sein, damit Controller sie ohne Nebeneffekte verändern können. In einer solchen Struktur können sie schnell und sicher auf neue Anforderungen reagieren.

Transparenz, also eine vollständige und nachvollziehbare Erklärung, was beschrieben wird und wie Bewertungen zustande kommen, ist dabei Pflicht für alle Module. Diese Anforderung ergibt sich daraus, dass die Erzählung des Entscheidungsraums nur im Vertrauen darauf entsteht, Beschreibungen verlässlich deuten zu können. Eine gelungene Modularisierung kann hier zur Transparenz und damit zur Verlässlichkeit beitragen.

Muster für den Umgang mit Komplexität

In der Art, wie Codierungen mit Komplexität umgehen, lässt sich ein allgemeines Muster zum Umgang mit Komplexität erkennen. Indem sich ein System auf die Verarbeitung ausgewählter Beobachtungen konzentriert, reduziert es Komplexität innerhalb seiner Grenzen. Damit entsteht beziehungsweise erhöht sich die semantische Komplexität beim Empfänger der vom System verarbeiteten Informationen. Sie gefährdet den Sinn der Informationsverarbeitung. Das System nimmt diese Gefahr als Minderung der Anschlussfähigkeit seiner ausgehenden Kommunikation wahr. Bei Bedarf passt es die Selektion seiner Beobachtungen und Verarbeitungsschritte an, um die Anschlussfähigkeit wieder zu verbessern.

Was bedeutet das?

Beim Motorradfahren ist die Anzahl der Hebel und Eingriffe übersichtlich. Der Bewegungsentwurf, dem ich z.B. in einer Kurve folge, ist zwar eine Fiktion. Meine Beobachtungen und Reaktion sind dagegen aber sehr konkret oder fühlen sich für mich sehr konkret an. Mit etwas Übung kann ich mich auf meine Wahrnehmungen verlassen. Bei der Unternehmenssteuerung ist diese Art der Verlässlichkeit eine Herausforderung.

Verlässlichkeit braucht flexible Berechenbarkeit

Erzählungen sind die effektive Basis für Entscheidungen in Unternehmen. Sie können den sehr verschiedenen Vorstellungen der Erzähler folgen. Daten, Datenverarbeitung, Berechnungen, analytische Verfahren und Modelle sorgen aber dafür, dass es etwas Nachvollziehbares zu erzählen gibt. Sie bestimmen ganz entscheidend darüber, mit welcher Konsistenz, Nachprüfbarkeit und technischen Qualität Erzähler Bewertungen erstellen und zu Erzählungen machen. Sie stellen eine zwar irreale, aber möglichst realistische Realität dar, die Ordnung in das Erzählen bringt und somit unerlässlich ist.

Wir müssen noch mehr tun

Die Herausforderungen, denen Controlling Systeme gegenüberstehen, sind nicht leicht zu bewältigen. Und leider muss ich an dieser Stelle zwei Fragen offenlassen.

  1. Wie werden Unternehmen, oder allgemeiner soziale Systeme, gesteuert? Ich habe eingangs nur ein paar Bedingungen genannt, um die Überlegungen zu Controlling Systemen zu motivieren. Wir sollten aber noch einmal genauer hinsehen, welche Art von Kommunikationen verarbeiten müssen, um wirksam zu steuern.
  2. Ich bin eine Erklärung schuldig, wie wir Bewegungsentwürfe und deren Beschreibungen in ein funktionierendes, modulares Konzept übertragen können. Dafür müssen wir etwas weiter ausholen, so dass eine Erklärung hier nicht mehr Platz findet.

Bei den beiden offenen Fragen geht es darum, was Sie steuern wollen (Frage 2) und wie Sie steuern wollen (Frage 1). Beide werde ich in weiteren Artikel beantworten.

In der Zwischenzeit: Make your computers fly!

P.S.: Mittlerweiler erschienen ist mein Artikel Soziale Systeme – Gegenstand der Steuerung. Dieser Artikel ist zentral für eine Antwort auf die beiden offenen Fragen. Der Artikel erklärt, dass soziale Systeme der Gegenstand der Steuerung sind, und dass sie als die Module bei der Modellierung von Leistungen betrachtet werden können.

Automatisierung im Spannungsfeld von Reduktion und Emergenz

Automatisierung im Spannungsfeld von Reduktion und Emergenz

Wie stellen Controller eine Entscheidungsgrundlage her und wie kann sie durch Controlling-Prozesse automatisiert werden?

Der Steuerung liegt immer ein Bewegungsentwurf zugrunde. Er bezieht sich auf eine zukünftige Gegenwart und liefert eine Begründung für die zu treffenden Entscheidungen. Man nennt das eine Entscheidungsgrundlage. Sie wird meist vom Controlling bereitgestellt. Die Beschreibung ist dabei immer unsicher, weil die zukünftige Gegenwart nicht mit der gegenwärtigen Zukunft übereinstimmen muss.

Beispiel

Um den Vorgang zu erklären, wählen wir als Beispiel eine Cash-Flow generierenden Maschine. Sie wird im Rahmen einer Investitionsentscheidung beschafft und erzeugt dann in der Folge Cash-Flows. Im Beispiel soll dies eine abstrakte Maschine sein, so dass die Cash-Flows genauso aus der Investition in einen Kundenkredit, aus der Investition in eine Aluminium Strangpressmaschine oder aus dem Erwerb eines ganzen Unternehmens stammen können. Der Bewegungsentwurf für eine solche Investition besteht in unserem Beispiel deshalb aus Cash-Flows. Die Investition erzeugt Cash-Flows im Zeitpunkt der Investition und die abstrakte Maschine erzeugt sie während ihrer Lebenszeit. Diese Vorstellung enthält eine weitere Abstraktion. Denn es interessiert uns nicht nur nicht, was für eine Maschine die Cash-Flows erzeugt. Sondern auch alle anderen nicht-monetären Motive spielen keine Rolle. Diese Feststellung ist wichtig für unser Beispiel.

Codierung als Reduktion

Codierung

Die Allgemeinheit des Beispiel-Modells ist wichtig, weil ich jetzt versuchen kann, verschiedene Investments miteinander zu vergleichen. Um das zu tun, erstelle ich die Kennzahl „Return on Investment“ (ROI), die ich mit der Discounted-Cash-Flow Methode errechne. Dabei werden die im Bewegungsmodell erwarteten Cash-Flows mit einem risikoadjustierten Zins auf den Anfangszeitpunkt der Investition diskontiert und dem Investment gegenübergestellt. Das ist grundsätzliche eine einfache Methode, die jedem Investment einen Wert zuweist, der es codiert.

Entscheidungsgrundlage

Wenn ich in der Rolle eines Entscheiders bin, der Investitionsentscheidungen trifft, ohne sich um die Zusammensetzung des eingesetzten Kapitals kümmern zu müssen, kann ich die Investments jetzt nach ihrem ROI sortieren und mich z.B. für die Investments mit dem höchsten ROI entscheiden. Die Kennzahl stützt sich auf ein klares, methodisch sauberes Konzept, das eine wirksame Basis für eine Erzählung zur Entscheidung liefert. Sie kann wenigstens prinzipiell konsensfähig sein.

Probleme im Detail

Die Probleme liegen hier jedoch im Detail. In die Berechnung des ROI gehen viele Annahmen z.B. darüber ein, mit welchen Cash-Flows in der Zukunft zu rechnen ist. Der ROI unterstellt außerdem, dass es bei der Investitionsentscheidung ausschließlich um einen berechenbaren Geldwert geht, dass Nebenziele z.B. aus einem sozialen Engagement (soweit man sie nicht ebenfalls in Geldwerte umrechnen will) keine Rolle spielen. Zuletzt ist auch der risikoadjustierte Diskontzins alles andere als eindeutig bestimmbar. Er hängt ab vom Risiko des Investments. Damit bestimmt sich der Zins aus einer Risikoeinschätzung der zukünftigen Cash-Flows sowie einer Preiseinschätzung für diese Risiken.

Die Kennzahl reduziert als eine Codierung ihre Aufmerksamkeit auf ausgewählte Effekte und ignoriert alles andere. Das macht sie effizient und nachvollziehbar. Über ihre Berechnungsvorschrift kann ich die Erzeugung der Kennzahl automatisieren. Wenn sie meine Entscheidungsgrundlage darstellt, dann kann ich die Entscheidungsgrundlage automatisiert erzeugen.

Semantische Komplexität

Bei geringen Unterschieden gut anwendbar

Es ist klar, dass sich die Bedeutung des Wertes, den unsere Kennzahl ausweist, nicht unmittelbar jedem Empfänger erschließt. Die Bewertung funktioniert noch gut, wenn ich mit dem gleichen Rechenverfahren sehr ähnliche Investments bewerte und ihre Codierung durch die Kennzahl vergleiche. Das könnten z.B. gleichartige, festverzinsliche Wertpapiere sein, die von ähnlichen Emittenten stammen und sich im Wesentlichen in ihrer Restlaufzeit unterscheiden. Ich kann den ROI dann einfach als Aussage über den Vergleich auffassen, ohne dass ich seinen Wert als eine absolute Größe einordne.

Mit den Unterschieden wachsen die Schwierigkeiten

Sobald die Unterschiede zwischen den Investitionen größer werden, muss ich mich aber fragen, ob die von mir getroffenen Annahmen der Berechnung einen Vergleich noch zulassen. Jeder andere Nutzer der Codierung kennt vielleicht noch nicht einmal meine Annahmen. Er stellt sich zusätzlich die Frage, ob die Annahmen überhaupt zuverlässig und außerhalb von Interessenkonflikten getroffen worden sind.

Die Interpretation ist entscheidend

Wir sprechen hier von semantischer Komplexität, weil es um die Bedeutung des Zeichens (hier dem ROI als Wert) geht, mit dem wir das Investment codiert haben. Die unbeantwortbaren Fragen sorgen dafür, dass die Codierung erstens hätte anders ausfallen können. Und zweitens sorgen sie dafür, dass der Empfänger die Deutung der Kennzahl nach seinem eigenen Kenntnisstand vornehmen muss. Von dem weiß er aber nicht, ob er für eine verlässliche Bewertung ausreicht. Wenn der Empfänger der Codierung die hierdurch entstehende Unsicherheit über die Bedeutung der Kennzahl nicht ausreichend verarbeiten kann, dann wird das Ziel, eine Entscheidung mit der Beschreibung des Bewegungsentwurfs zu rechtfertigen, nicht mehr erreicht.

Was bedeutet das?

Codierung führt immer zu semantischer Komplexität

Die Voraussetzung für die Automatisierung von Entscheidungsgrundlagen besteht darin, dass die Beschreibung von Bewegungsentwürfen codiert wird. Die Codierung basiert dabei auf der Abstraktion des Bewegungsentwurfs, in unserem Beispiel der selektiven Beobachtung von Cash-Flows, und der Projektion der Cash-Flows auf einen Wert, den ich z.B. nach seiner Größe ordnen kann. In unserem Beispiel ist dieser Wert der ROI. Selbstverständlich hätte man jede Entscheidung der Abstraktion und der Projektion auch anders treffen können, aber das ist hier nicht entscheidend. Wichtig ist, dass die Codierung der Entscheidungsgrundlage an anderer Stelle, nämlich beim Empfänger, zu einer semantischen Komplexität führt, die der Empfänger bearbeiten muss. Das passiert immer, egal welche Entscheidungen ich bei der Codierung treffe.

Das Ziel ist gefährdet, kann aber gerettet werden

Maßnahmen, die zur Automatisierung von Entscheidungsgrundlagen getroffen werden, müssen also damit rechnen, dass es für den Nutzer der Entscheidungsgrundlage schwieriger wird, die Bedeutung der Codierung einzuordnen und sie richtig einzusetzen. Sie laufen damit Gefahr, für die Rechtfertigung von Entscheidungen weniger relevant zu werden. Das ist nicht immer der Fall. Und es können Maßnahmen ergriffen werden, die es den Nutzern von Entscheidungsgrundlagen erleichtern, die Komplexität zu behandeln.

Maßnahmen zur Behandlung von semantischer Komplexität

Abhilfe ist in dieser Situation an zwei Stellen möglich.

Erleuterung der Bewertung

Erstens kann neben der Kennzahl eine Erläuterung ihrer Berechnung und der in die Berechnung eingeflossenen Annahmen kommuniziert werden. Das wird außerdem erreicht, wenn die Berechnung weiter differenziert wird. Bei der Investition in eine Aluminium Strangpressmaschine können die erwarteten Cash-Flows z.B. in Gruppen eingeteilt werden, je nachdem ob ein kompliziertes oder ein einfaches Presswerkzeug eingesetzt wird. Die Absatzmärkte und Margen unterscheiden sich für diese Gruppen, so dass die Differenzierung einen besseren Einblick in Chancen und Risiken verschafft. Die Erläuterung von Annahmen kann z.B. enthalten, auf welche Weise der Diskontzins abgeleitet oder ermittelt wird. Diese Zusatzinformation erleichtert den Vergleich mit anderen Bewertungen. Erläuterung und Differenzierung schließen potenzielle Lücken bei der Nachvollziehbarkeit der Bewertung.

Fine Tuning durch Verwendung

Zweitens kann sich ein Zutrauen in die Bewertung der Kennzahl durch wiederholte Verwendung und Rückschau der Ergebnisse entwickeln. Vertrauen entsteht dann durch positive Erfahrungen mit der Verlässlichkeit und Vorhersagekraft der Kennzahl. Die Analyse und Diskussion von Ursachen im negativen Fall und falls hilfreich die Anpassung der Berechnungsverfahren vergrößert die Chancen auf positive Erfahrungen und die Wirksamkeit der Kennzahl. Gleichzeitig stärken sie das nötige Wissen zur Interpretation der Kennzahl.

In diesem zweiten Maßnahmenbündel wird die Herstellung der Kennzahl zum Thema der Analyse, die zur Anpassung der Beobachtung bzw. Beschreibung des Bewegungsentwurfs führt. Stellen wir z.B. als Investor einer Strangpressmaschine fest, dass die Margen bei der Produktion von Aluminiumsträngen mit einfachen Werkzeugen niedriger ausfallen als ursprünglich angenommen, dann können wir diese Annahme anpassen. Oder wir stellen fest, dass unsere Kunden Zahlungsfristen für Rechnungen regelmäßig überziehen. Dann richten wir den Bewegungsentwurf, der den zeitlichen Verlauf der Cash-Flows beschreibt, an der neuen Beobachtung aus.

Das grundsätzliche Problem bleibt zwar bestehen, dass unser Bewegungsmodell Unsicherheiten enthält und damit Komplexität in die Deutung der Kennzahl verschiebt. Die Verwendung und Deutung der Kennzahl entwickelt sich aber in einem evolutionären Prozess zu einem verlässlicheren Verfahren, das nicht-anschlussfähige Berechnungen, Annahmen und Auslegungen mit der Zeit eliminiert.

Warum ist diese Feststellung interessant?

Meine Beschreibung, zu welchen Effekten die Verwendung von Kennzahlen führt, ist nicht gerade weltbewegend. Immerhin wissen wir jetzt, dass Kennzahlen erklärt werden müssen. Wozu also die Mühe und die Verknüpfung mit den Fremdwörtern?

Anforderungen an Informationssysteme im Controlling
  1. Informationssysteme müssen sich darauf einstellen, Nutzern Kennzahlen zu erläutern und deren Bedeutung zu differenzieren. Unschärfen von Deutungen werden dabei nicht immer an den gleichen Stellen auftreten. Das macht es erforderlich, je nach Bedarf, an anderen Stellen detailliertere Informationen einzubauen.
  2. Wenn sich das Zutrauen in Kennzahlen durch praktische Übung verbessern soll, dann ist es auch notwendig, Anpassungen an der Berechnung zu ermöglichen. Dazu muss die Berechnung in den Informationssystemen transparent sein und Änderungen erlauben.
Muster für die Behandlung von Komplexität

Der Vorgang, den ich hier beschrieben habe, ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir Komplexität behandeln. Das ist in der soziologischen Systemtheorie ausführlich beschrieben. Wir haben hier ein einfaches Beispiel gesehen. Die Systemtheorie liefert aber Erklärungen auch für kompliziertere Zusammenhänge, die wir an anderer Stelle gut gebrauchen können.

  1. Sie hilft uns z.B. Anforderungen an Controlling-Systeme zu formulieren und dabei Begründung und Vollständigkeit zu prüfen.
  2. Sie zeigt uns Potenzial und Grenzen von Automatisierungen und kann auf Möglichkeiten für den Einsatz künstlicher Intelligenz hinweisen, bei der wir nicht fürchten müssen, nicht mehr Herr unserer Erzählungen zur Steuerung zu sein.
  3. Und, was mir wichtig ist: Systemtheorie ist keine Wissenschaft, die sich auf weichen Faktoren beschränkt. Ich habe ganz absichtlich ein Beispiel gewählt, das sich auf monetäre Faktoren bezieht und dabei ein großes mathematisches Gewicht haben kann. Das passt gut zusammen.

In dem Beitrag Komplexität managen mit Operationaler Abgeschlossenheit habe ich das Muster zur Handhabung von Komplexität weiter beschrieben. Der Text ist etwas umfangreich, behandelt dafür aber auch Auswirkungen und Anwendungen der Abgeschlossenheit.

In diesem Sinne: Make your Computers fly!

Eine englische Version des Beitrags habe ich auf LinkedIn unter dem Titel „Automation between reduction and emergence“ gepostet.

Für Fragen stehe ich gerne zur Verfügung:
Tel. +49-160 5438306 oder
per mail an frank@fp-consulting.org

Vollständige Kontrolle ist eine Illusion

Vollständige Kontrolle ist eine Illusion

Ich fahre gerne Motorrad. Aus Erfahrung weiß ich, dass die vollständige Kontrolle aller Fahrbedingungen beim Motorrad – leider – nicht zu erreichen ist. Das hat das Motoradfahren mit der Steuerung von Unternehmungen gemeinsam.

Die vollständige Kontrolle der Fahrt ist beim Motorrad nicht möglich, weil man es mit verschiedenen Ungewissheiten zu tun hat. Als erstes ist es nicht möglich, festzustellen, was genau eine „richtige“ Steuerung des Motorrads wäre. Man kennt das aus der Diskussion um „richtige“ Kurvenlinien und manchmal auch von den Stammtischen, wie ein Motorrad überhaupt durch eine Kurve gelenkt wird. Dazu kommen unbekannte Umweltbedingungen, wie der Straßenbelag, mögliche Hindernisse und andere Verkehrsteilnehmer. Und obendrein bleibt das Motorrad nur stabil, solange man es fährt. Wenn man es nicht fährt, dann fällt es um.

Anders als bei der Unternehmenssteuerung gibt es beim Motorrad nur eine begrenzte Zahl von Steuerungsmöglichkeiten: Gas, Bremse, Kupplung und zwei Lenkerenden, die ich je nachdem, in welcher Richtung ich eine Kurve fahren will, auf der rechten oder linken Seite nach vorne drücke. Die Risiken sind klar zu benennen: dass die Fahrt ungewollt endet, z.B. weil das Motorrad dazu neigt, eine rutschige Stelle auf der Straße mit allen seinen Teilen genauer inspizieren zu wollen.

Steuerung während der Fahrt

Aufgrund der übersichtlichen Anzahl von Hebeln für die Steuerung lässt sich der Ablauf gut beschreiben. Bevor ich z.B. eine Kurve fahre, mache ich mir immer eine Vorstellung von dem Bewegungsauflauf, der dafür erforderlich ist. Das gilt auch, wenn mir das nicht so bewusst ist. Ich sehe mich, bevor ich die Kurve erreiche, quasi schon selbst, wie ich die Kurve fahre. Ich nenne das einen Bewegungsentwurf.

Während der Fahrt durch die Kurve vergleiche ich meine Beobachtungen mit dem Bewegungsentwurf, und reagiere, wenn es zu relevanten Abweichungen kommt. Entweder passe ich meine Steuerung so an, dass ich dem Bewegungsentwurf wieder näherkomme, oder, was seltener der Fall ist, weil meistens schnell gehandelt werden muss, ich verändere den Bewegungsentwurf noch einmal. Der zweite Fall tritt vor allem dann ein, wenn sich der ursprüngliche Bewegungsentwurf z.B. wegen eines Hindernisses nicht mehr ausführen lässt. Es hilft mir dann, wenn ich mich auf ein Reaktionsmuster für solche Fälle vorbereitet habe. Man kann solche Situationen vorher gedanklich durchgehen und in manchen Fällen auch konkret üben.

Wegen der nicht erreichbaren vollständigen Kontrolle über die Situation während der Fahrt, bleiben Risiken, die es klein zu halten, aber auch zu akzeptieren gilt. Um die Risiken zu begrenzen, setze ich z.B. intelligente Technik in Form eines kurvenabhängigen ABS ein, trage immer gute Schutzkleidung und bereite mich mental und durch Übungen auf unvorhergesehene Situationen vor.

Bewegungsentwurf in Form einer Erzählung

Zentral für die Steuerung ist der Bewegungsentwurf. Bei Unternehmungen in einem sozialen Umfeld, in dem genaue Vorhersagen praktisch unmöglich sind, entsteht der Bewegungsentwurf als gemeinschaftliche Erzählung mit einer plausibilisierten Quasigewissheit: Die Plausibilität erlaubt es, auf hinreichende Gründe für Entscheidungen zu vertrauen, während die Gemeinschaftlichkeit der Erzählung vor allem die Anschlussfähigkeit von Entscheidungen wahrscheinlicher macht. Prognose wird nun anders interpretiert: Nicht mehr als Vorhersage einer zukünftigen Gegenwart, sondern als Erzählung eines möglichen Entscheidungsraums, den man sich gemeinschaftlich festlegt. Die Erzählung generiert eine fiktive Gewissheit, die ausreicht, zu entscheiden (Birger P. Priddat, Erwartung, Prognose, Fiktion, Narration; Zur Epistemologie des Futurs in der Ökonomie, Metropolis-Verlag).

Elena Esposito hat genauer erläutert, wie das geschieht. Sie beschreibt, wie z.B. die Fiktionen eines Romans auf die Wirklichkeit zurückwirken. In der explizit fiktiven Realität des Romans kann sich ein Leser zurechtfinden, weil der Roman auf präzise, überprüfbare und nicht willkürliche Weise eine Welt beschreibt, die nicht existiert. Die Fiktion wirkt wie ein Spiegel, in dem die Gesellschaft ihre eigene Kontingenz reflektiert. Wahrscheinlichkeitstheoretische Modell funktionieren ebenso. Sie stellen eine irreale, aber realistische Realität dar, gerade weil sie diese vereinfachen und auf diese Weise eine regelmäßigere und besser geordnete Realität zur Verfügung stellen, die nicht „zirkulär“ und um die Wechselwirkungen zwischen Beobachtern und Zeithorizonten bereinigt ist (Elena Esposito, Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Suhrkamp).

Bewegungsentwürfe sind ein zentraler Bestandteil bei vielen Aktivitäten, die eine Steuerung verlangen. Bei der Steuerung von Unternehmen sind sie jedoch abstrakt und geprägt durch die kooperative Informationsverarbeitung in sozialen Systemen. Klassische Controlling Aufgaben und quantitative Methoden sind dabei ebenso wichtig, wie die richtige Erzählung.

Ich nehme die Fragen, wie in Unternehmen gesteuert wird und welche Anforderungen sich an die Gestaltung von Controlling Systemen ergeben, in weiteren Artikeln auf. Bisher erschienen sind:

Weitere Artikel werden folgen.